Im Alter von 83 Jahren erinnert sich der russische Poet und bildende Künstler Leonid N. Rabitschew an seine Erlebnisse im 2. Weltkrieg. In bisher nicht gekannter, schonungsloser Offenheit, auch gegen sich selbst, schildert der Autor seine Erlebnisse vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion, wenige Tage vor seinem 18. Geburtstag, über seine Offiziersausbildung bei einer Fernmeldeeinheit bis zum Fronteinsatz in Weißrussland und Ostpreußen. Er beschreibt nur, was er selbst erlebt hat, darunter Szenen nahezu unvorstellbarer, verstörender Grausamkeit, insbesondere beim Einmarsch der Roten Armee nach Deutschland, wie man sie bisher nur aus der Perspektive einer Propaganda und kaum aus der der Opfer kannte. Nicht zuletzt das Gefühl einer eigenen Mitschuld und das Bedürfnis nach Buße hatten den im letzten Jahr Verstorbenen dazu bewogen, das selbst erlebte Geschehen aufzuzeichnen.
„Der Krieg rechtfertigt alles“ ist ursprünglich ein Teil seiner Memoiren, 2008 erschienen, die zunächst Kindheit und Familie beschreiben. Beide Elternteile aus einfachen Verhältnissen kommend, machen sie als Kommunisten Karriere, sein Vater wird hoher Beamter in einem Ministerium. Sichtbar wird eine behütete Kindheit in der Nomenklatura, anschaulich wird aus dieser Sicht das Leben im Moskau der dreißiger Jahre geschildert.
Der letzte Teil der Memoiren erzählt den künstlerischen Werdegang des Autors, konzentriert sich aber darauf, dessen Entscheidungen und Motivationen nachzuzeichnen. Warum hat er bestimmte Wege eingeschlagen, wer und was beeinflusste ihn dabei? Folgerichtig nehmen sein Professor Beljutin und die berühmt-berüchtigte Manege-Ausstellung von 1962 großen Raum ein. Hier wurden zum ersten Mal in der UdSSR Bilder ausgestellt, die die westliche Kunstentwicklung der ersten Jahrhunderthälfte nachvollzogen, teilweise an Abstraktes grenzten. Rabitschew stellte selbst mit aus und war Augenzeuge, auch des frivolen Chruschtschow-Auftrittes, der Künstler obszön beschimpfte und der dazu führte, dass eine andere Kunst als der Sozialistische Realismus in den nächsten Jahrzehnten nicht öffentlich werden konnte.
Über diese Manege-Ausstellung gibt es eine Unmenge von Erinnerungen, Literatur und Theorien, und Rabitschews Version hat den Vorteil, von einem direkt Beteiligten und in einem zeitlichen Abstand, frei von Beschränkungen, verfasst zu sein.
Zentraler und in sich geschlossener Teil dieser Memoiren war aber von Anfang an der Bericht über seine Kriegserlebnisse, der auch bereits „Война всё спишет“ (Der Krieg rechtfertigt alles) hieß und Titel für den gesamten Memoirenband wurde (Untertitel: „Memoiren, Illustrationen, Dokumente, Briefe“). 2010 erschien dieser Teil als separates Buch in 3000 Exemplaren, war bald vergriffen, ist allerdings noch als E-Book erhältlich.
Zu Recht wurde diesem Buch einige Aufmerksamkeit zuteil, auch in der deutschsprachigen Presse gab es Erwähnungen, Catherine Merridale nutzt es in 'Iwans Krieg' als Quelle.
In der Tat kommt Rabitschews Erinnerungen dokumentarischer Wert zu, es handelt sich um Selbsterlebtes, um Augenzeugenberichte, sie versammeln keinerlei kriegshistorische Exkurse oder Überblicke, keine Schlachtenberichte oder strategische Überlegungen. Er hat Tagebücher geführt und seine Briefe von der Front aufbewahrt, trotzdem wird er vieles vergessen haben. Er überlässt sich dem, an das er sich erinnert, und unsere Erinnerung bewahrt vor allem Bilder. So wirken viele Szenen wie Snapshots aus der Vergangenheit, sie stehen ihm und uns klar vor Augen, oft durch die Anschaulichkeit von, eigentlich nebensächlichen, Details.
Zum zweiten ist bemerkenswert, dass Rabitschew nicht nur versucht, Bilder der äußeren Welt heraufzuholen und darzustellen, sondern ebenfalls die einer inneren - nicht nur, was er gesehen und getan hat, versucht er zu vergegenwärtigen, auch, was er gefühlt und gedacht. Natürlich versteht der über Achzigjährige nicht sein zwanzigjähriges alter ego, er stellt eher Hypothesen über es auf und kontrastiert seinen heutigen Blick mit damaligen Briefen. Er ist gleichsam auf der Suche nach sich selbst, und vielleicht mag diese überhaupt Anlass der Erinnerung gewesen sein.
Festzuhalten ist ebenfalls, dass der Autor den Anspruch, irgendeine „Wahrheit“ darzustellen, von vornherein negiert und stets seine eben gerade konstruierte Erinnerung wieder dementiert und in Frage stellt. Er gibt Zweifeln Raum, beschreibt mehrmals, nicht ohne Ironie, die Tücken der Erinnerung, streicht fertige Zeichnungen der Vergangenheit wieder durch, bricht Berichte ab, erzählt sie neu oder, in seinen Gedichten, aus anderer Sicht.
Trotzdem, oder besser gerade deswegen erfahren wir sehr Vieles, und sehr viel Neues, über das bislang nur äußerst zurückhaltend oder überhaupt nicht berichtet wurde. Plünderungen in Moskau und offen geäußerte Opposition. Absurdität und Sadismus einer Militärausbildung mit Schlafentzug und Unterernährung. Gewissenlose Opferung von Menschenleben durch Vollzug sinnloser Befehle. Eine Allgegenwart von Machtmissbrauch, Korruption und Diebstahl.
Besonders aufschlussreich sind Rabitschews Beobachtungen bezüglich der Frauen in der Roten Armee, angefangen bei ungeeigneter Kleidung und nicht vorhandener Hygiene über alle Arten sexueller Ausbeutung, bis hin zur Vergewaltigung. Eine Quelle, die meines Wissens nicht ihresgleichen hat.
Die schwer zu ertragenden Schilderungen der Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung in Ostpreußen bilden wahrscheinlich die tiefste Motivationsschicht Rabitschews, seine Erinnerungen aufzuschreiben, er selbst spricht von Reue und Buße. Leserinnen und Leser können ihn, wie er sich selbst ebenfalls nicht, von Schuld und Verantwortung freisprechen. Nach unserer heutigen Meinung hätte er sich für mehrere Taten und Unterlassungen strafrechtlich zu verantworten, und wir können nur vermuten, dass der Autor es seinerzeit und zur Zeit der Niederschrift letztlich genau so sah.
Die anfangs angeführte Schonungslosigkeit gegen sich selbst beweist, wie tief den Autor die Ereignisse aufgewühlt haben. Sein Bericht hat auch bei seinen Leserinnen und Lesern eine große emotionale Wirkung. Für diese Offenheit, die sich einem Richtspruch bewusst aussetzt, sind wir ihm zu Dank verpflichtet.
Gleichwohl lässt sich an Bildern aus dem Gedächtnis zweifeln, zumal wenn sie 60 Jahre später heraufgeholt werden. Dies tut Oleg Budnitskii anhand einer Schilderung: „In truth, the picture drawn by Rabichev...does not inspire great confidence. We know from documents and memoirs about the great number of group rapes, one of witch Rabichev probably witnessed, and it is altogether possible that some officers „kept order in line.“ But that thousands simultaneously participated in such an action and moreover did so in broad daylight on the shoulder of a road and under the leadership of senior officers - this reminds one more of a Bosch painting extrapolated to 1945...“ (Oleg Budnitskii in: Fascination and Enmity, David-Fox/Holquist/Martin, Pittsburgh University Press 2012, p. 190).
In Frage gestellt wird hier das Ausmaß des Verbrechens, aber vielleicht wird in der erwähnten Passage das Ausmaß des Schockes deutlich. Der Leutnant Rabitschew ist entsetzt über das Verhalten seiner Soldaten, mit denen er anderthalb Jahre sehr eng zusammenlebte und die sich übergangslos und anscheinend ohne Gewissensbisse auf eine Art und Weise verhielten, wie er es nie für möglich gehalten hatte. Der Kommunist Rabitschew, auf der Seite des Lichtes und der Zivilisation gegen das Böse kämpfend, sah, dass sein Land, seine Führung, seine Armee gleichfalls Untaten nicht nur zuließ, sondern einkalkulierte oder sogar plante und organisierte, eine Erkenntnis, die sein weiteres Leben prägte.
Die Verbrechen der Roten Armee, bzw. ihrer Angehörigen waren bereits Bestandteil der Nazipropaganda und blieben bis weit in die Sechziger präsent in der antisowjetischen und antikommunistischen Agitation. Mittlerweile sind mehr als 70 Jahre vergangen, es ist Geschichte, die sich nur mehr schwer instrumentalisieren lässt und die über sich hinaus weist. Wir lesen die Berichte über den Einmarsch der Sowjetischen Armee in Ostpreußen heute auch als Exempel, und bei diesem Bericht haben wir es mit einem Novum zu tun.
In einem Krieg leidet auch die Zivilbevölkerung - so heißt es immer, beschönigend. Dass dieser Ausdruck selbst bereits einen Euphemismus darstellt, davon lesen wir schon im Alten Testament, dazu brauchen wir nicht den Dreißigjährigen Krieg oder die Kolonialgeschichte heranzuziehen. Dass Krieg, seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte bis zum heutigen Tag auch impliziert, ihn systematisch und bewusst gegen Frauen zu führen, wird in Geschichts- und gar Militärgeschichtsschreibung weniger explizit ausgesprochen. Rabitschew zeigt es uns.
Über welche Aussagen verfügen denn wir, in einem Land, das so stolz ist auf seine „Vergangenheitsbewältigung“? Welcher Kriminelle in Anzug, Wehrmachts- oder sonstiger Naziuniform hat uns denn gebeichtet, was er angerichtet hat? Wo sind die Schuldbekenntnisse der Täter aus dem Vietnamkrieg oder den Jugoslawienkriegen? Ich kenne sie nicht, es gibt sie nicht. Was uns vorliegt, im besten Fall, sind Berichte von Untersuchungskommissionen, mit vereinzelten Zeugenaussagen. Und es schweigen auch die Frauen, aus Gefühlen der Scham und Erniedrigung, oder weil sie tot sind.
Mit Rabitschews Erinnerungen liegt uns ein einmaliges Dokument vor.
Weil wir von der historischen Bedeutung des Textes überzeugt waren, wollten wir einen deutschen Verlag für seine Herausgabe gewinnen und übersetzten dafür beispielhaft einige Kapitel. Die Suche zog sich hin und war bis heute nicht erfolgreich, die Übersetzung wurde allerdings währenddessen komplettiert.
Von dem Erben Leonid Rabitschews, seinem Enkel, erhielten wir die Erlaubnis, Auszüge dieser Übersetzung zu veröffentlichen, weiterhin mit dem Ziel, einen Verlag für eine deutsche Ausgabe zu gewinnen.
Die Auszüge hier sollen einen repräsentativen Eindruck der Kriegsmemoiren vermitteln. Weggelassen wurde vieles: Rabitschews literarische Betätigungen und Kontakte wie seine Affären, oder besser Nicht-Affären, die Militärausbildung, die sich wahrscheinlich nicht wesentlich von der in anderen Ländern unterschied sowie viele Erinnerungen alltäglicher Fronterlebnisse. Weggelassen wurden auch, um den Schwerpunkt nicht zu verschieben, die meisten der grausamen Szenen.
Zu den Gedichten
Gleich bei den ersten Ausschnitten, die wir zu übersetzen begannen, stellte sich die Frage nach den Gedichten. Uns wurde aber schnell klar, dass der Autor sie nicht in den Text eingebaut hatte, weil er sie für poetisch höchst gelungen hielt (wiewohl vielleicht auch sein Herzblut daranhängen mochte), sondern weil sie ebenfalls Zeitdokumente sind, das jeweils Erzählte poetisch und bildlich verdichten, es kommentieren, vielleicht auch dementieren oder etwas mitteilen, dass dem Autor anders zu formulieren wahrscheinlich nicht möglich war. Im Rückblick ermöglichen sie dem Autor wie uns einen Blick in das Gefühlsleben dieses fremden Zwanzigjährigen.
Schwankt also die literarische Qualität, so scheint in den Gedichten doch eine Frische auf, eine Unbefangenheit, gar Naivität, eine Direktheit, der man anmerkt, wie, teils fürchterliche, Erlebnisse ungefiltert und zeitnah verarbeitet werden.
Diesen Enthusiasmus zu bewahren war das erste Anliegen der Übertragung, sowie natürlich den deutschen Lesern den Originaltext möglichst unverändert vorzulegen. Von Fall zu Fall schwankt sie also zwischen einer leicht rhythmisierten, wörtlichen Übersetzung und einer Nachdichtung.
tatiana gritsenko - jörg alpers
Separate Ausgabe der Kriegsmemoiren, Grundlage der Übersetzung
Рабичев Леонид. Война всё спишет. Воспоминания офицера-связиста 31 армии. 1941-1945. — М: Центрполиграф, 2010. — 254 с. — (На линии фронта. Правда о войне). — ISBN
978-5-227-02355-1
3000 ex
Ursprünglicher, umfangreicherer Memoirenband
Рабичев Леонид. Война всё спишет - Мемуары, Иллюстрации, Документы, Письма
Издательство Аваллон, Москва 2008, ISBN 978-5-94989-119-3, 568 c