Auszüge Kapitel 14

Das Schicksal meines Bruders

 

Obwohl mein Vater nur vier Schulklassen durchlief, verfügte er über eine kalligraphische Handschrift, seine Unterschrift bestand, außer den Buchstaben 'N' und 'Rabitschew' , aus vier kunstvollen Arabesken und Schnörkeln, die die gesamte Buchstabengruppe einkreisten.

Eine Zeichnung? Ein Wappen? Der Beleg für die Einmaligkeit seiner Existenz?

Ein Symbol?

 

Natürlich zeigt die Unterschrift seine unbezweifelbare Einzigartigkeit, aber als Dokument einer Epoche erinnert sie gleichfalls an die Unterschriften zaristischer Abteilungsleiter, an die von Schriftstellern, hohen Adligen oder Ministern des Zaren.

 

Ich hatte nicht erwähnt, dass sich mein Vater nach der Schule zehn Jahre lang in Bibliotheken als Autodidakt weiterbildete, dass mein Großvater, ein Waldhüter, jeden Sommer Studenten aus Kiew und Tschernobyl kommen ließ, um seinen elf Kindern nicht nur Algebra und Geographie, sondern auch Schönschreiben beizubringen.

 

Wahrscheinlich war es diese Tradition, dazu ein Schuss Ehrgeiz - obwohl nicht von altem Adel, sind wir darum nicht schlechter als die bekanntesten Rechtsanwälte, Standespersonen und Fürsten.

 

So wird es gewesen sein.

 

Dazu die Menge der von ihm gelesenen und exzerpierten Bücher. Tolstoi, Dostojewski, Kuprin, Puschkin, Turgenew, ein gusseisernes Gedächtnis sowie organisatorische Fähigkeiten.

 

Vielleicht war es mit einer solchen Unterschrift auch einfacher, eine Anstellung zu finden? Die Unterschrift eines Menschen des 18. und 19. Jahrhunderts stellte seine Visitenkarte dar.

 

Im Geheimen träumte auch ich von einer solchen Unterschrift, genau wie mein Bruder Viktor. Ich glaube, er war ungefähr 16, als er sich einige Bogen Papier griff und sie mit seinen Versuchen füllte. Die Unterschrift sollte genauso eindrucksvoll wie bei Papa sein.

 

Der hieß Nikolai, am Beginn mit dem sich öffnenden 'Н', bei ihm jedoch das runde 'В', und schon ergaben sich Probleme.

 

Viktor übte seine Unterschrift, ich saß daneben.

 

Er übte, bis er zufrieden war, stellte weitere Versuche ein und schrieb seinen Namen in der Zeit vor dem Krieg dann so in alle Bücher und Schulhefte, unterschrieb so bei allen Gelegenheiten, ab Beginn des Krieges auch seine wunderbaren Briefe.

 

Aus diesem Grund hat sich mir die Unterschrift meines Bruders auf ewig ins Gedächtnis eingebrannt.

 

Aber darum geht es eigentlich nicht.

Am 15. August 1942 erhält meine Mutter einen Brief Viktors, in dem er berichtet, er sei schon aus dem Hospital entlassen, habe einen neuen Panzer erhalten und werde bald wieder in Stalingrad sein.

Am Ende des Briefes gibt er seine neue Feldpostadresse an.

Es ist sein letzter Brief.

Die Schreiben meiner Eltern kommen alle zwei Wochen zurück. Auf die letzte Anfrage bei der Kanzlei des Höchsten Oberkommandos Marschall Stalins erfolgt die Mitteilung, dass die Einheit P/Ja 218768 nicht in den Listen der Armee geführt werde und mein Bruder offensichtlich unbekannt verschollen sei.

Nicht erwähnt wurde, dass mit ihm auch seine gesamte Panzerbrigade als

vermisst galt.

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Stadt Löwenberg, Juli 1945

 

Zwei Monate nach dem Sieg befinde ich mich noch immer im Kompaniestab in diesem schlesischen Löwenberg und, wie bereits erwähnt, betreibe mit meinem Zug militärische und technische Übungen, während ich nachts mit den anderen Offizieren requirierten Wein trinke und vergeblich von der Demobilisierung träume.

Ich lerne einen Hauptmann aus einer Nachbareinheit kennen, er schaut bei uns hinein und gibt mir die Hand: „Andrei Tupizyn.“ „Leonid Rabitschew“, stelle ich mich vor.

Ach, ist das deine Werkstatt da hinten an der Straße?“

Nicht doch“, sage ich, „ich hab keine Werkstatt, nur meinen Zug hier, Telefonisten.“

Da steht doch ein Wegweiser: '300 Meter bis zum Betrieb Rabitschew'.“

Mein Herz stockt. Ein seltener Familienname. Sollte es mein Bruder sein?

Ich habe von solchen Geschichten gehört. Nach schweren Verbrennungen

waren Männer bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ihr Gesicht, von wulstigen Narben geradezu durchfurcht, erinnerte an Leprakranke oder Syphilitiker, dass Unbekannte unwillkürlich zurückschauderten, und auch ihre Bekannten konnten damit nicht umgehen. Einige von diesen Männern verschwanden einfach, um ein neues Leben zu beginnen, ob glücklich oder unglücklich.

Und wenn“, kam mir in den Kopf, „er es auch so gemacht hätte?“

Ich renne aus dem Haus, überquere die Straße, komme zum Wegweiser -

und erstarre.

Auf dem Wegweiser steht unter den Worten „Betrieb Rabitschew“ die Unterschrift meines Bruders, die gleiche, die er vor dem Krieg, vor zwölf Jahren komponiert hatte, ein kleines bischen an die Papas erinnernd, aber nicht dessen, sondern Vitjas, seine ihm eigene und unverwechselbare...

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Nach dem Krieg hatte eigentlich jeder Soldat und Offizier zwei oder drei erbeutete Armbanduhren, und dies führte zu folgendem Amüsement: dir kommt auf der Straße ein unbekannter Leutnant entgegen und spricht dich an:

Springen wir, scheiß drauf!“

Springen heißt in diesem Fall tauschen*. Ich habe eine deutsche Armbanduhr, und er? Lächelndes, gutmütiges Gesicht.

Springen wir, springen wir...“, sage ich, und erhalte ein unglaubliches schweizer Exemplar, Zifferblatt durchsichtig, Korpus durchsichtig, man kann sehen, wie sich alle Zahnrädchen bewegen.

Na, da hast du Glück gehabt“, sagt der unbekannte Leutnant.

Die ganze Aktion unter den Augen des Stabsfeldwebels meiner Kompanie, Tschumikow. Er tritt etwas später an mich heran und sagt: „Springen wir, scheiß drauf!“

Ich möchte ihm einfach ein Geschenk machen, von Moskau ist er bis Königsberg gelatscht, und nichts außer Gutem habe ich von ihm erfahren.

Springen wir, springen wir...“ murmele ich. Nun hat er meine schweizer Uhr und ich wieder eine gewöhnliche deutsche, aber froh sind wir beide.

Mit dieser Tschumikowski-Uhr wurde ich 1946 demobilisiert, und ich behielt sie und bringe sie zwölf Jahre später in eine Werkstatt an der Ecke Herzen- und Suworowski-Boulevard.

Ich ziehe die Uhr aus der Tasche, und der Meister will die Quittung ausfüllen:

Wie ist der Nachname?“

Rabitschew“.

Nicht doch“, sagt er, „Ihr Nachname!“

Rabitschew, Rabitschew!“

Was erzählen Sie denn, da steht doch mein Name am Fenster - ich bin Rabitschew, wie heißen Sie?“

Ich heiße auch Rabitschew. Merkwürdig...“, bemerke ich, „so ein seltener Name, und dann begegnet man sich...“

Wieso denn selten? Ich habe zwanzig Verwandte, und alle heiße Rabitschew.“

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*Ein Soldatenlied: Солдату лишнего имущества не надо/Махнем не глядя как на фронте говорят - Soldaten haben Eigentum nicht nötig/Tauschen wir, egal, so heißt es an der Front

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Zehn Jahre später klingelt es abends an meiner Wohnungstür am Pokrowskij-Boulevard. Im Treppenhaus stehen zwei beleibte Oberste.

- „Sind sie Rabitschew?“ fragt einer.

- „Ja.“

- „In welcher Beziehung stehen Sie zu Viktor Rabitschew, der 1942 vor

Stalingrad eine Panzerabteilung kommandierte?“

- „Ich bin sein Bruder.“

- „Leben seine Eltern noch?“

- „Die Mutter“, antworte ich, „steht in der Küche, sein Vater ist 1952

   gestorben.“

Mein Herz schlägt wie wild.

- „Lebt er noch“, frage ich, „wer sind Sie und warum sind Sie nicht eher

   gekommen?“

- „Erzählen Sie Ihrer Mutter nichts, kommen Sie mit auf den Boulevard.“

   Wir gehen auf die Straße und setzen uns auf eine Bank.

- „Wir sind mit dem Zug aus Leningrad gekommen, wir waren mit Ihrem Bruder

   zusammen und haben alles gesehen.“

- „Wir haben ihn begraben“, erklärt der Zweite.

- „Wann ist er denn umgekommen, und wie?“ frage ich.

- „Nachdem wir ihn begraben hatten, wollten wir seine Eltern benachrichtigen,

   obwohl wir keine Ahnung hatten, wie. Aber am nächsten Tag wurde unsere

   ganze Brigade vernichtet, und wir fanden uns in verschiedenen Lazaretten

   wieder, dann in unterschiedlichen Armeen. Dann kamen schreckliche

   Schlachten, und hinterher vermochten wir nicht, die angemessenen Worte

   zu finden, alles klang so unnatürlich.“

- „Wir waren völlig erschöpft in dieser Nacht im August, und dann diese

   Hitze...“

- „Ihr Bruder ist eingeschlafen, und im Schlaf ist er von der Armierung

   gerutscht und von den Ketten seines eigenen Panzers zerquetscht worden.“

 

Wir verabschieden uns.

Völlig verzweifelt streune ich über den Boulevard. Mir war nicht bewusst, dass

man auch auf diese Art im Krieg sterben kann.

Ich habe ebenfalls erfahren, dass Viktor drei Schlachten überlebt hatte.

Am 23. Juli 1942, im zweiten Kampf, schossen die Deutschen seinen Panzer in Brand. Er erlitt schwere Verbrennungen und wurde vom Schlachtfeld gleich ins Lazarett eingeliefert. Nach fünfzehn Tagen entlassen übernahm er das Kommando über eine neue Abteilung. Im dritten Einsatz zerstörten sie eine feindliche Batterie, zum Glück wurde niemand der Panzersoldaten verletzt.

 

Ich war nicht in der Lage, das meiner Mutter zu erzählen, und sie starb zehn Jahre später, ohne erfahren zu haben, wie ihr verlorener Sohn gestorben war.

 

Seine Briefe von der Front, vollständig bis zum letzten Telegramm, bewahre ich auf. Sein Name ist eingemeißelt in eine Marmortafel im Vestibül der Hochschule für Werkzeugmaschinenbau in der Wadkowski-Gasse. In der Parkstraße 13 ist eine Stele errichtet, die den gefallenen Schülern der Schule gewidmet ist.