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Zurück in Ostpreußen, Februar 1945
Ja, vor fünf Monaten, als unsere Truppen die Zivilisten einholten, die aus Goldap, Insterburg und anderen von der deutschen Armee verlassenen Städten flüchteten. In Pferdewagen, Autos oder zu Fuß bewegen sich Alte, Frauen, Kinder, ganze Großfamilien langsam, auf allen Wegen und Straßen, westwärts.
Unsere Panzerfahrer, Infanteristen, Artilleristen, Fernmeldetruppen überholen sie, und um den Weg freizumachen, werfen und schieben sie die Fuhrwerke und Möbel, Bündel und Koffer und Pferde in die Straßengräben. Alte und Kinder zur Seite schiebend schmeißen sie sich, Pflicht und Ehre sowie die ohne Kampf sich zurückziehenden deutschen Einheiten vergessend, zu Tausenden auf Frauen und Mädchen. Längs der gesamten Chaussee liegen links und rechts Frauen, Mütter und ihre Töchter, und vor jeder steht eine grölende Armada Männer mit herabgelassenen Hosen.
Blutübergossen und halb oder ganz bewusstlos werden die Frauen anschließend seitwärts geschleppt, ihre Kinder, die ihnen zu Hilfe kommen wollen, erschossen.
Wiehern, Brüllen, Lachen, Schreien und Gestöhne. Die Kommandeure hingegen, Majore und Oberste, stehen auf der Chaussee, einige amüsieren sich, andere dirigieren, oder besser lenken und ordnen das Ganze. Damit ausnahmslos auch alle Soldaten sich beteiligen.
Nein, das ist kein kriminelles Ritual, das alle zu Mitschuldigen machen soll, und schon gar nicht stellt diese teuflische und todbringende Massenvergewaltigung die Rache an verfluchten Okkupanten dar.
Permissivität, Gewährenlassen, Straflosigkeit, die Auslöschung des Individuums und die grausame Logik einer wahnsinnig gewordenen Menge.
Erschüttert sitze ich im Führerhaus des Anderthalbtonners, mein Chauffeur Demidow steht in der Schlange, mir schweben die Karthagener Flauberts vor, und ich begreife, dass der Krieg bei Weitem nicht alles rechtfertigen kann.
Der Oberst, derselbe, der eben noch dirigierte, kann sich nicht länger zurückhalten und reiht sich selbst in die Schlange ein, der Major erschießt Augenzeugen, hysterisch zitternde Kinder und Alte.
„Macht Schluss! Zurück auf die Wagen!“
Von hinten kommt bereits die nächste Einheit.
Und wieder ein Halt, und ich kann meine Fernmeldesoldaten nicht zurückhalten, die bereits eine neue Reihe gebildet haben. Mir kommt's hoch.
Bis zum Horizont zwischen den Bergen an Gepäck und umgestürzten Pferdewagen die Leichen von Frauen, Alten, Kindern. Die Straße ist für den Verkehr geräumt. Es wird dunkel.
Links und rechts deutsche Vorwerke.
Wir bekommen den Befehl, unser Nachtlager dort einzurichten. Hier befindet sich ein Teil des Armeestabes: das Artillerie- und Flakkommando, die Politabteilung. Mir und meinem Zug wird ein Gutshof zwei Kilometer von der Chaussee zugewiesen.
In allen Zimmern Leichen von Kindern, Greisen, vergewaltigten und erschossenen Frauen. Wir sind so müde, dass wir ihnen keine Beachtung schenken, uns zwischen ihnen auf die Erde legen und sofort einschlafen.
Am Morgen nehmen wir den Funk in Betrieb, über Kurzwelle haben wir Verbindung zur Front. Erhalten Befehl, Telefonkabel zu verlegen. Unsere vorderen Einheiten sind schließlich doch auf deutsche Korps und Divisionen gestoßen, die Verteidigungsstellungen eingenommen haben.
Die Deutschen ziehen sich nicht weiter zurück, sie sterben, aber ergeben sich nicht. Am Himmel erscheinen ihre Flugzeuge. Vielleicht täusche ich mich, aber mir scheint aufgrund der Härte, Kompromisslosigkeit und des Ausmaßes der Verluste auf beiden Seiten diese Schlacht mit der von Stalingrad vergleichbar zu sein. Der Kampf tobt vorne und um uns herum.
Ich verlasse das Telefon nicht. Erhalte Befehle, erteile Befehle. Erst abends ist Zeit, die Leichen in den Hof zu schaffen.
Ich habe keine Ahnung, wohin wir sie getragen haben.
Einfach auf den Hof? In den Anbau? Ich kann mich nicht erinnern, wohin, ich weiß nur, dass wir sie niсht einmal begraben haben.
Begrabungskommandos gab es, glaube ich, allerdings hinten in der Etappe.
Also, ich habe geholfen, die Leichen hinauszutragen. Blieb dann starr an der
Hauswand stehen.
Frühling, das erste grüne Gras ist sichtbar, eine strahlende, wärmende Sonne.
Unser Haus hat ein Spitzdach, mit einem Wetterflügel im gotischen Stil, mit roten Ziegeln gedeckt, bestimmt 200 Jahre alt, der Hof, mit Steinplatten gepflastert, vielleicht 500.
Wir sind in Europa, in Europa!
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Am 1. Februar wurde die Stadt Heilsberg von unserer Armee im Sturm genommen, das war der Durchbruch durch die deutschen Linien. Ein deutsches Lazarett verblieb in der Stadt, mit verwundeten Soldaten und Offizieren sowie den Ärzten. Noch am Vortag wogte eine verbissene Schlacht, die Deutschen starben, aber gaben nicht auf. So schwer unsere Verluste, und soviel uns die ganze Operation gekostet hatte, so hoch stauten sich Hass und Erbitterung an, sodass unsere Infanterie bei der Eroberung alle deutschen Ärzte und Verwundeten erschoss, das gesamte Personal des Hospitales.
Nach zwei Tagen erfolgt ein Gegenangriff. Eilig setzen sich unsere Divisionen ab, und Auge um Auge - jetzt schaffen wir es nicht, unser Lazarett rechtzeitig zu evakuieren, und die Deutschen erschießen ihrerseits ausnahmslos alle unsere Ärzte und Verwundeten.
Dann werfen Unsere die Deutschen wieder aus der Stadt, und diesmal verbleibe ich dort mit der Hälfte meines Zuges. Rund um die Stadt, in den Dörfern Glittanen, Gallingen, Reddenau, Rehagen verlegt die zweite Hälfte meiner Männer am 2. Februar Telefonkabel und errichtet in Bahnhofsnähe einen Beobachtungspunkt. Außer unseren Truppen verbleiben in der Stadt viele deutsche Flüchtlinge: Greise, Frauen, Kinder, die den Großteil der Wohnungen belegen.
Mit meiner Hälfte des Zuges erreiche ich die Stadt am Abend und beschließe, in der evangelischen Kirche zu übernachten. In dem Moment, als meine Männer die Pferde in die Kirche führen und wir uns bereit machen, uns nach einem dreißig-Kilometer-Vormarsch auszuruhen, schneiden zwei deutsche Divisionen Stadt und umliegende Dörfer von unserer vormarschierenden Armee ab, während unsere Soldaten und Offiziere sich in Unkenntnis davon über die ganze Stadt verteilen.
Während der Stadtkommandant, von Rang Oberst, versucht, die Rundum-Verteidigung zu organisieren, ziehen unsere halbbetrunkenen Kämpfer statt- dessen Frauen und Mädchen aus ihren Wohnungen. In dieser kritischen Lage versucht der Kommandant, die Kontrolle über unsere Soldaten wiederzu- gewinnen. In seinem Auftrag übermittelt mir ein Fernmeldeoffizier den Befehl, die Kirche von acht meiner Männer mit Maschinenpistolen zu sichern, während ein spezielles Kommando die Frauen befreit, die sich in der Gewalt der außer Kontrolle geratenen 'siegreichen Krieger' befinden.
Ein weiteres Kommando sammelt die auf der Suche nach 'Vergnügen' in der Stadt verstreuten Soldaten und Offiziere ein und erklärt ihnen die Lage. Mit Mühe wird eine Verteidigungsstellung gebildet.
Währenddessen hat man etwa 250 Frauen und Mädchen in die Kirche getrieben, aber keine vierzig Minuten später fahren mehrere Panzer vor. Die Panzersoldaten drücken meine Wache am Eingang beiseite, stürzen in die Kirche, werfen die Frauen zu Boden und beginnen, sie zu vergewaltigen.
Ich kann nichts tun. Eine junge Deutsche sucht Zuflucht bei mir, eine zweite kniet sich vor mir nieder: „Herr Leutnant, Herr Leutnant!“. Sie umringen mich, auf irgendetwas hoffend, und reden die ganze Zeit.
Aber jetzt hatte sich die Nachricht bereits in der Stadt herumgesprochen, es bilden sich bereits Schlangen, und wieder dieses verfluchte Wiehern, die Reihen, und meine Soldaten sind auch dabei.
“Zurück, fickt Euch...“ schreie ich, und weiß nicht wohin und wie die beiden sich an meine Beine Klammernden beschützen, während die Tragödie schnell immer größere Ausmaße annimmt.
Stöhnen sterbender Frauen. Jetzt werden sie (warum? wozu?) sogar die Treppe hinauf nach oben geschleppt, und die blutverschmierten, halbnackten Bewußtlosen werden durch die zerschlagenen Fensterscheiben auf das steinerne Pflaster des Platzes geworfen. Sie werden ergriffen, ausgezogen, umgebracht. Um mich herum ist keine, die verschont wird. So etwas hatten weder ich, weder meine Soldaten, je gesehen. Eine furchtbare Stunde.
Die Panzerfahrer sind verschwunden. Ruhe. Nacht. Der angsteinflößende Leichenberg. Völlig erschöpft verlassen wir die Kirche. Schlafen können wir nicht. Wir sitzen um ein Lagerfeuer mitten auf dem Platz. Um uns herum explodieren dann und wann Granaten. Wir sitzen und schweigen.
Morgens durchbrechen zwei unserer Divisionen den Belagerungsring, und wir befinden uns wieder im Hinterland.
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7 . Mai 2002, 57 Jahre später
„Ich möchte das nicht hören, und ich will, dass Sie, Leonid Nikolaewitsch, diesen Text vernichten, er darf keinesfalls gedruckt werden!“ spricht mit sich überschlagender Stimme meine Freundin, die Poetin, Prosaistin und Journalistin Olga Ilnizkaja zu mir.
Das Gespräch findet im S-Krankenhaus für Kriegsveteranen in Medwedkow statt. Zehn Tage liege ich schon im Vierbettzimmer. Ich schreibe vor und nach dem Frühstück, während der Infusionen, tagsüber, abends, manchmal nachts. Ich beeile mich, die plötzlich aus dem Unbewussten hervorbrechenden Bilder eines vergessenen Lebens zu fixieren. Olga besuchte mich wohl in dem Glauben, ich werde ihr meine neuesten Gedichte vorlesen.
Ihr Gesicht ist eine Grimasse des Abscheus, ich bin verlegen. An die Reaktionen von Lesern oder Zuhörern hatte ich nicht gedacht, nur daran, wie wichtig es sei, kein Detail auszulassen. Fünfzig Jahre früher wäre es einfacher gewesen, aber damals gab es dieses unbezwingliche Bedürfnis nicht. Und habe wirklich ich das geschrieben? Wie kann das sein? Was für eine Inszenierung in meinem Lebenslauf! Befremdend auch, dass ich keinen Unterschied empfinde zwischen dieser Prosa und meinen Zeichnungen nach der Natur oder den spontan entstehenden Gedichten.
Welches Ziel verfolge ich?
Wie wird die Reaktion unserer Generäle sein, und die unserer Freunde in der Bundesrepublik? Oder unserer Feinde dort?
Sind meine Erinnerungen irgendjemandem schädlich - oder nützlich? Eine ambivalente Angelegenheit: Memoiren! Wahrhaftig - sind sie, ja, aber was die moralische Seite betrifft, oder das Ansehen unserer Regierung, die der jüngsten Zeitgeschichte, da werde ich umgehend mit meinen Texten in Konflikte geraten.
Was tue ich, auf welches gefährliche Spiel habe ich mich eingelassen?
Dann plötzlich geht es mir auf. Es ist kein Spiel und keine Selbstrechtfertigung, es entstammt einer anderen Dimension, es ist Reue - und Buße.
Wie ein Splitter sitzt es nicht nur in mir, sondern in meiner ganzen Generation. Wahrscheinlich sogar in allen Menschen. Diese persönlichen Erlebnisse sind die Bruchstücke der Explosion eines verbrecherischen Zeitalters, und mit ihnen, wie mit denen der Entkulakisierung der 30er-Jahre, des Gulags, denen des schuldlosen Sterbens zig-Millionen unschuldiger Menschen oder der Okkupation Polens 1939 ist es eine Unmöglichkeit, anständig zu leben, ohne Buße kann sich niemand würdig vom Leben verabschieden. Ich war der Kommandant des Zuges, mir war schlecht, ich habe getan, als schaute ich weg, aber es waren meine Soldaten, die in diesen fürchterlichen, verbrecherischen Schlangen anstanden und lachten, während sie vor Scham hätten brennen sollen als sie, im eigentlichen Sinne, Verbrechen gegen die Menschheit begingen.
Und der Oberst, der den 'Verkehr' regelte? War der Befehl eines einzigen schon hinreichend? Tatsächlich fuhr auf dieser Chaussee auch der Kommandierende Marschall der 3. Belorussischen Front, Tschernjachowski, in seinem Willys Jeep. Bemerkte er etwas? Hat er das alles gesehen, ist er in das Haus gegangen, in dem den auf Betten liegenden toten Frauen Flaschen zwischen die Beine gesteckt waren? War ein einziger Befehl ausreichend?
Auf wem also lastet die größere Schuld: auf den Soldaten in den Reihen, auf dem Verkehrsregler-Obersten, den feixenden Obersten und Generälen, auf mir als bloßem Beobachter, auf allen denen, die meinen, dass der Krieg alles rechtfertigt?
Im März 1945 wurde meine 31. Armee der 1. Ukrainischen Front in Schlesien unterstellt. Am zweiten Tag wurden auf Befehl Marschall Konews 40 sowjetische Soldaten und Offiziere vor der angetretenen Truppe erschossen und in Schlesien ereignete sich kein weiterer Fall von Vergewaltigung oder Ermordung von Zivilisten. Warum hat Marschall Tschernjachowski das in Ostpreußen nicht getan? Mich quält eine verrückte Vorstellung: Stalin lässt Tschernjachowski rufen und spricht im Flüsterton zu ihm: „Sollte man nicht vielleicht diese ostpreußischen Imperialisten mit der Wurzel ausrotten, nach den internationalen Abmachungen wird das Territorium ohnehin unseres, sowjetisches?“
Und Tschernjachowski: „Wird erledigt, Genosse Generalsekretär!“
Das ist meine Phantasie, aber sie kommt der Wahrheit schon sehr nahe. Nein, ich brauche wahrhaftig nichts zu verheimlichen, was ich mit eigenen Augen gesehen habe. Weder darf ich, noch kann ich schweigen! Verzeih mir bitte, Olga Ilnizkaja.
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