Juni 1946
Ich erhalte meine Entlassungsurkunden. Zwei Koffer habe ich, vollgestopft mit Trophäen.
Das ganze Jahr hatte die militärische Handelsorganisation aus einem requirierten deutschen Warenlager mal Uhren oder Stücke von Seidentuch, mal Damenunter- wäsche oder Tischdecken ausgeteilt, ich weiß gar nicht mehr, was noch alles. Dazu kamen zwei Garnituren Bettwäsche, wollene Unterhemden, eine Reithose, Uniformjacke und Mantel, der Regenumhang sowie Bücher.
Ich trampte über Sopron und Eisenstadt bis nach Wien. Zeit hatte ich, und auch eine Adresse.
Mit zwei Koffern stehe ich vor dem Häuschen unserer russischen Emigranten.
Freudig lässt mich die Frau herein, aber auf dem Diwan sitzt ein halb betrunkener Feldwebel, die Flasche Wodka vor sich auf dem Tisch.
Wir machen uns bekannt, trinken auf den Sieg, auf die Rückkehr in die Heimat. Ich bin todmüde, lege mich aufs Bett und schlafe sofort ein. Der Feldwebel weckt mich irgendwann und erzählt, dass er morgen ebenfalls aus Wien abreise, nach Brjansk, und dass, während ich schlief, die Hausherrin weggegangen und er ins obere Stockwerk geschlichen sei, in dem er in einem Sekretär das silberne Tafelbesteck entdeckt habe sowie Ringe, Ohrgehänge und ein Zigarettenetui aus Gold.
„Leutnant“, spricht er, „hier ist mein Nagan, ich hab den Revolver nicht abgegeben. Na los, zusammen mit dir legen wir diese Bl..., diese Oma und ihren Alten um und teilen alles, vielleicht finden wir noch mehr. Und morgen früh - mit dem Zug nach Budapest, keiner wird uns finden, eine absolut saubere Sache!“
Ich begreife, dass ihm die Ermordung eines Menschen überhaupt nichts bedeutet und suche nach einem Ausweg.
Ich öffne einen Koffer und hole die vier Flaschen Palinka heraus, zu denen ich eigentlich meine moskauer Freunde einladen wollte. Das ist ein Obstler mit mehr als 50 % Alkohol. Ich mache den Vorschlag, erst einmal einen Schluck zu trinken, und gieße ihm einen ganzen Krug ein, mir selber nur 100 Gramm. Wir trinken auf den Erfolg, ich gieße ihm den Krug wieder voll, mir selber nur zum Schein ein und wir trinken auf den Sieg. Dann den dritten und vierten Krug.
Innerhalb zwanzig Minuten ist er vollständig betrunken, will aufs Bett krabbeln und rutscht vom Stuhl. Es ist 22 Uhr. Die beiden Alten kommen und gehen nach oben, während ich auf dem Stuhl sitzen bleibe und nicht einschlafen darf, um das Verbrechen zu verhüten.
So sitze ich bis sieben Uhr morgens, der Feldwebel - potentieller Dieb und Bandit - schnarcht unter dem Tisch. Nur mit Mühe kann ich ihn wecken, ich behaupte, wir würden uns zum Zug verspäten, ich selber sei auch eben erst wachgeworden. Ich schaffe es, ihn zu überreden, die Alten nicht umzubringen, wir müssten zum Bahnhof und hätten dafür zu wenig Zeit. Wir greifen unsere Koffer und Tornister und gehen zur Straßenbahn.
„Ein Arschloch bist du, Leutnant“, sagt er mir, „ich habe geglaubt, du bist ein Mann, aber Scheiße...!“
.....
Im Bahnhof Gedränge, ich muss mich anstrengen, den Feldwebel hinter mir zu lassen und finde einen Eilzug, allerdings weder einen 'Tornado' noch einen 'Rapid'.
Die Scheiben sind alle herausgeschlagen. Ich klettere aufs Waggondach, ein unbekannter Hauptmann hilft mir, meine schweren Koffer hinaufzuhieven. Er hat ebenfalls viel Gepäck, und wir schaffen es gemeinsam...
...Langsam setzt sich der Zug in Bewegung - noch ein paar Stunden, dann sind wir an der russischen Grenze, in Iasi.
Hier werden die Kämpfer und Sieger aufgeteilt in Soldaten und Offiziere, die getrennt in die Heimat zurückkehren. Mein Zug, so erfahre ich, geht über Kiew, wo Tante Vera mit ihrem Mann wohnt, mit Cousin Mischa und Cousine Raja.
Ihr älterer Bruder, Jura, den ich sehr mochte, den ich vor dem Krieg durch alle Moskauer Museen geschleppt und in alle Geheimnisse meines Lebens eingeweiht hatte, kam am Ende des Krieges auf tragische Weise ums Leben. Als Aufklärer fiel er in die Hände einer Strafeinheit der SS, wurde gefoltert, die Faschisten schnitten ihm einen fünfzackigen Stern in die Stirn und erschossen ihn. Der Gegenangriff der Unseren kam um eine halbe Stunde zu spät.
Ich beschließe, ein paar Tage in Kiew zu bleiben.
Sowie, schon auf dem Gebiet der UdSSR, unser Zug zusammengestellt ist, renne ich zur Post und schicke Tante Vera ein Telegramm. Wir erreichen Kiew vormittags, aber erst gegen Abend schaffe ich es zu ihrer Wohnung am Kreschatik.
Das liegt daran, dass ich in Iasi, als ich vom Waggon geklettert bin, den Nachbarn geholfen habe, ihre Sachen herunterzuheben und meine Koffer schleppte, irgendwie das Sternchen meiner rechten Schulterklappe verloren haben muss, und an diesen Sternchen herrschte damals in der Armee ohnehin ein enormes Defizit. Viele Offiziere trugen schon lange nicht mehr die originalen, geprägten Metallsterne, sondern hatten sich welche aus gebrauchten Konservendosen ausgeschnitten und angenäht.
Am Vormittag stehe ich beinahe vor dem Haus, bin schon auf dem Kreschatik, aber es ist Juli, Hitze, und ich mit diesen beiden Koffer und dem Tornister.
Schweißüberströmt knöpfe ich meine Bluse auf, allein Hitze, Staub und Schweiß haben das schneeweiße Unterhemd nach zehn Tagen beinahe schwarz gefärbt.
Das ist die Kehrseite des Krieges.
Mir entgegen marschiert, angeführt von einem Major, eine Patrouille der Stadtkommendantur, die die Aufgabe hat, diejenigen Soldaten einzufangen, die aus dem besetzten Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien nach Hause kommend es unterließen, sich den Dienstvorschriften entsprechend zu kleiden oder zu grüßen.
Ich trage in jeder Hand einen Koffer und grüße nicht, mein Kragen steht offen, die Mütze hängt im Nacken. Und obwohl meine Papiere in schönster Ordnung sind und zwei Orden an meiner Brust hängen, werde ich, wie hunderte meiner Mitreisenden, arrestiert, muss Koppel und Portepee ablegen, mit meinen Koffern bis zur Kommandantur latschen und darf acht Stunden lang die Straßen Kiews fegen.
Wie man sieht, paaren sich Heroismus und Patriotismus nur zu gern mit Heuchelei, Bosheit und Hinterhältigkeit.
Aber das alles fällt von mir ab, als ich die Schwelle meiner Verwandten überschreite, die ich viereinhalb Jahre nicht gesehen habe.
Wir sitzen in der Guten Stube bei wunderbarem Essen, trinken Wein, und ich erzähle.
Rechts von mir sitzt ein älterer Mann, den ich nicht kenne, ein Freund meiner Tante. Er fragt mich auf einmal: „Wo willst du denn jetzt studieren?“
Ohne eine Sekunde zu zögern, antworte ich: „Am Literarischen Institut. Vor zwei Jahren sind in der 'Smena' Nr. 4 drei Gedichte von mir gedruckt worden, und im Koffer habe ich noch einige angefangene, die noch nicht fertig sind.“
„Möchten Sie nicht vielleicht zwei oder drei meiner Gedichte ins Russische
übersetzen?“ fragt er mich.
Ich bin verwundert, aber auch geschmeichelt. Ich habe keine Ahnung, wie ich das machen soll und sage, dass ich so etwas noch nicht probiert habe und außer Russisch auch keine weitere Sprache könne.
Er würde, sagt er, jetzt einfach die Verse aufschreiben und daneben die russische Linearübersetzung, ob ich es nicht versuchen möchte?
„Gerne, sehr gerne“, antworte ich, und frage im Flüsterton bei Tante Vera: „Wer ist das denn?“
„Lenja“, flüstert sie zurück, „das ist ein sehr bekannter jüdischer Schriftsteller, Mitglied im Antifaschistischen Komitee, seine Gedichte sind in beinahe zwanzig Sprachen übersetzt, das ist David Hofstein.“
Er holt ein Notizbuch aus der Tasche.
Zwei Gedichte auf Jiddisch.
Ich kann zwar kein Wort Jiddisch, verfüge aber über die Linearübersetzung, bin glücklich, eine Pflicht zu erfüllen, und dazu kommt noch dieses sowjetische 'Wer will, der kann auch!“. So einfach öffnet sich der Weg in die Literatur.
Ich setze mich an den Schreibtisch und versuche bis zum Morgen, die Zeilenübersetzungen in Gedichte umzuwandeln, tagsüber arbeite ich noch an Varianten. Abends erscheint Hofstein, liest sich alles durch - und ist unerwarteterweise begeistert. Niemand hätte ihn bisher, so äußert er sich,
derart tief und adäquat übersetzt, für ihn werde ein Traum wahr.
Ich werde fast verrückt vor Freude, und er schreibt zwei Briefe. Einen an den Verlag 'Der sowjetische Schriftsteller', den anderen an den Cheflektor der Abteilung Literatur im 'Verlag der Völkerfreundschaft' mit der Bitte, die Manuskripte zweier Bücher, die demnächst von ihm erscheinen sollen, von den zuständigen Lektoren zur Übersetzung an mich zu senden. Nur an mich.
Einen Monat später schreibe ich mich in Moskau an der künstlerischen Fakultät des Polygraphischen Institutes ein, bringe den Brief David Hofsteins zu seinem Verlag, erhalte die Manuskripte und Linearübersetzungen und fange an, zu arbeiten.
Im Laufe der Übersetzungen entstehen Fragen, es entspinnt sich ein Briefwechsel, per Post schicke ich ihm einen alten Stich aus dem 17. Jahrhundert, den ich in einem halbzerstörten deutschen Schlösschen gefunden hatte - eine Darstellung Jerusalems mit verschiedenen Szenen aus dem Alten Testament. Die Zeit vergeht.
Ende 1947 lerne ich bei literarischen Studien am MGU die beiden letzten Übersetzungen Hofsteins kennen, die Wladimir Lugowski erstellt hatte.
Im September 1948 wird David Hofstein, zusammen mit allen Mitgliedern des Jüdischen Antifaschistischen Komitees verhaftet und zur Erschießung verurteilt. *
Papa ist völlig panisch. Mit Sicherheit ist den Gebischniki** auch unser Briefwechsel in die Hände gefallen und der Stich von Jerusalem.
Vom Verlag meldete sich niemand bei mir. Alle begonnenen Übersetzungen vernichtete ich, vom literarischen Studienkreis der Philosophischen Fakultät der MGU schloss man mich aus, weil ich kein Student dort war. Dafür gestaltete sich mein Studium am Polygraphischen Institut erfolgreicher, mehr und mehr begeisterte ich mich für komponierte Zeichnungen nach der Natur.
Gedichte schrieb ich keine mehr.
Erst nach dreißig Jahren kehrte ich zu Poesie und Malerei zurück.
Warum? Das kann ich nicht sagen. Das Bedürfnis, mich in Gedichten auszudrücken, empfand ich mit sechzehn Jahren, mit dreiundzwanzig, und es tauchte erneut, und für immer, mit sechzig auf.
Трясущиеся губы, сердце бьется./
Заноют зубы. Что такое страх?/
Мне выразить его не удается. /
Какой-то неожиданный размах? /
Бежит сержант Баранов, бомба рвется, /
и нет его. На дереве – карман. /
Я говорил: «Лежи!» А он был пьян. /
А я уставы нарушать боялся./
Боялся женщин. Страх меня терзал./
Сержант был пьян, а я не рассказал. /
Боялся «Юнкерсов» пикирующих, мин. /
Начальник от приказа отказался./
Любимая! Прости меня, прости!/
Не мог, не мог, не мог я подвести /
любого из доверившихся мне /
с походкой неуклюжей, с грубым слогом. /
Я понимал, что это ложь вдвойне, /
и это чувство долга перед Богом, /
и страх меня терзал, и я терзался. /
Медаль. Потом начальник на коне/
меня позвал, и я не отказался./
Не то коньяк, не то одеколон.
lippen zittern herzen schwingen
und wir bibbern und wir wimmern.
was ist die angst?
ich kann sie nicht in bilder zwingen.
doch jetzt - welch unerwartet wucht?
baranow rennt, die bombe kreischte.
ihn gibts nicht mehr. umsonst die flucht.
im baum die tasche blieb von seinem fleische.
„In Deckung!“ schrie ich - er war berauscht.
ich hatte angst, das reglement zu übertreten
und angst vor frau'n, die mich zerfleischte.
baranow war betrunken, ich verschwieg es im bericht.
ich hatte angst vor minen und vor stukas.
der vorgesetzte widersetzte sich dem ukas.
verzeih mir, meine liebe, komm, ich bitte dich!
ich konnte nicht und konnte niemals trügen
nur einen, der auf mich vertraut,
mit ungeschicktem gang und einfach nur gestrickt.
so bin ich eingeknickt, so muss ich doppelt lügen
und dies gefühl der schuld vor gott
und diese angst sie martert mich.
gewissensbisse. seh mich im kostüm.
ein orden. dann ein offizier auf hohem ross
der zu sich mich bestellt. und ich genoss
sowohl den cognac als auch das parfüm.
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* Er kommt später in ein Lager in Sibirien und wird am 12. August 1952 erschossen.
** Das Ministerium für Staatssicherheit (MGB) (russisch Министерство государственной безопасности/Ministerstwo Gossudarstwennoi Besopasnosti) der UdSSR war die am 19. März 1946 aus dem NKGB gebildete sowjetische Staatssicherheitsbehörde. Gebischnik: verächtliche Anrede seiner Angehörigen, dito KGBischnik