Kapitel 47 - 51 Diner und Ballett 'Excelsior'

Kapitel 47

Acht-Gänge-Menue

Nach dem überstandenen Ritt und der Bezahlung der Führer nimmt unser
Ehepaar eine Equipage. Sie setzen sich, und der Kutscher dreht sich

zu ihnen um und fragt wie gewöhnlich: „Quelle rue, Monsieur? Quel numéro?“
-  „Nein, keine Hausnummer, keine Nummer.... Abendessen wollen wir,
   dîner...“ antwortet Nikolai Iwanowitsch.
-  „Montrez, où on peut très bien dîner. Mais très bien...“ fügt Glafira hinzu.
-  „Oui, Madame“ und der Kutscher fährt los. Nach kurzer Zeit dreht er sich
    erneut um: „Il me semble, que vous êtes des ètrangers... Et après dîner?
    Après dîner vous allez au théâtre? N’est ce pas? Alors, je vous conseille
    le théâtre Eden, c’est ravissant!“
-  „Schau an, Nikolai Iwanitsch, was für ein liebenswürdiger Kutscher. Sogar
    ein Theater kann er empfehlen...“ bemerkt Glafira, „Cocher - Quel théâtre
    vous avez dit?“
-  „Eden, Madame. Ce n’est pas loin de l’Opéra“.
-  „Da werden Opern gesungen?“ fragt Nikolai Iwanowitsch besorgt.
-  „Nein, nein, er sagt nur, das Theater sei nicht weit von der Oper entfernt.
    Erinnerst du dich, wir sind doch an einem riesigen Theater vorbeigefahren,
    da genau gegenüber“.
-  „Frag lieber, was die da spielen... nicht, dass da wieder Bauchtänze, zum
    Teufel mit denen...“

-  „A que est-ce qu’il y a dans cette théâtre?“ fragt Glafira.
-  „C’est le ballet, Madame“.
-  „Ballett gibts da“.
-  „Hab ich mitgekriegt. Hab ich verstanden, an die französische Sprache
    hab ich mich jetzt gewöhnt“, behauptet Nikolai Iwanowitsch, „aber,
    Glascha, frag trotzdem, was für Ballett. Vielleicht ist es Bauchballett, das
    scheint hier in Paris Mode zu sein, auf der Ausstellung haben wir bei drei
    Theaterchen reingeguckt, überall Bauchballett“.
-  „Ja, wirklich ein widerwärtiger Tanz...“
-  „Naja, richtig widerwärtig eigentlich nicht, aber wenn immer dasselbe...“
-  „Sei bitte ruhig. Cocher - quel ballet dans cette théâtre?“
-  „Excelsior, ah, Madame, c’est quelque chose d’énorme...“
-  „La danse de ventre?“
-  „Oh non, non, Madame, c’est quelque chose de ravissant. Grand corps
    de ballet... mais il faut procurer les billets.. à présent...“

Bereits zehn Minuten später hält der Kutscher vor dem Theater, in einer
kleinen Gasse neben der Grand Opéra befindlich. Das Schild „Eden“ leuchtet

über dem Eingang, an den Türen sind riesige Plakate mit Szenenbildern 

aus dem Ballett „Exzelsior“ angebracht mit gezeichneten Zügen und Dampf-
lokomotiven, Dampfern, Felsen, Palmen, einer Masse an Tänzerinnen und
mittendrin, auf einem Bein stehend, offensichtlich die Primaballerina,

funkensprühend.
-  „Für Touristen, das Plakat, reißerisch, wie beim Jahrmarkt“ bemerkt Nikolai
    Iwanowitsch.
-  „Macht nichts, wir nehmen zwei Billette. Der Kutscher hat es gelobt, und
    hier wissen die Kutscher über alles Bescheid“, entscheidet Glafira

    Semjonowna.
-  „Aber nimm bitte nicht so teure Plätze, Glascha“.

-  „Also sowas... willst du auf die Galerie, dich auf dem Dachboden

   verkriechen? Ich möchte mich hübsch machen und mir die feine

   Gesellschaft angucken, auf der Ausstellung laufen ja alle in Lumpen...“

Sie wählen Sessel im Parkett und fahren weiter zum Abendessen.

Vor einem Gebäude setzt der Kutscher sie ab und versichert ihnen,

hier ein hervorragendes Essen, mit dem sie zufrieden sein werden,

zu bekommen. Es sei eine Passage, sie sollten nur hineingehen

und erblickten das Restaurant.

Das Restaurant, das sie betreten, ist glänzend und buchstäblich überflutet
von Gaslicht, das empfohlene Abendessen, wiewohl aus acht Gängen

bestehend, gefällt unserem Paar hingegen nicht: Die Suppe ist zu dünn,

statt Fisch bekommen sie Krevetten in Sauce provençale vorgesetzt,

die Glafira nicht anrührt, das Fleisch wird mit Croutons und in

Miniaturstückchen serviert, dass Nikolai Iwanowitsch alles auf einmal

in den Mund schieben kann. Danach folgen Artischockenböden

mit einer weißen Sauce, von der man nicht erkennen kann,

aus was sie besteht, ein halbes Hühnerflügelchen auf Salat,

Zabaione, Melone und Kaffee. Im Diner inbegriffen war sogar punch
glacé, genommen haben sie 6 Francs pro Person, Wein extra.

-  „Wo ist denn nun die viel gepriesene pariser Küche“, fragt Nikolai Iwano-
   witsch nach dem Mahl, den letzten Schluck Rotwein hinunterspülend,
   „sechs französische четверти kassieren sie, das sind in unserem
    Geld zwei Rubel 40 Kopeken, und.. ach herrje, bin weder satt, noch
    hungrig, bei uns in Petersburg wirst du für zwei Rubel bei Donon gefüttert,
    bist du platzt...  du weißt, dass ich nach dem Essen gewohnt bin, ein wenig
    zu dösen, aber nicht mal müde bin ich jetzt. Ech, mit welchem Vergnügen
    würde ich jetzt ein frisches Süppchen mit Bruststückchen verspeisen, oder
    Ferkelchen mit Schmand und Meerrettich. Ein Happen Gans mit Äpfeln
    wäre auch ganz hübsch. Aber so etwas gibts hier ja nicht“, poltert er,
   „wenig essen sie, die Franzosen, sehr wenig... guck den da hinten an...
    offensichtlich satt, sieht man am Gesicht, sitzt da und stochert in den
   Zähnen... eine Menge Brot schlingen sie zum Abendessen hinunter, das
   ja, aber Suppe ohne Piroshki - wo hat man das denn gesehen? Bei uns
   gibts welche dazu, die sind so mächtig, da weißt du nicht, an welchem
   Ende du anfangen sollst... und die Artischockenböden - da liegen bei uns
   fünf als Garnierung beim Fleisch - und hier zählt das zusammen mit zehn
   Erbsen als eigenständiges Gericht... hier gibts drei Kartoffelschnitze zum

   Fleisch, und bei uns als Beilage Pilze, Blumenkohl, Bohnen, Spinat und
   Kartoffeln... meinst du, hier bestellt  überhaupt mal jemand ein ganzes
   Hühnchen... ogottogott, irgendwie bekomme ich Hunger...“
-  „Jetzt reichts aber hin! Nach dem Theater können wir noch etwas essen“,
    unterbricht ihn Glafira Semjonowna barsch, „so fett wie du bist, tut dir
    etwas Hungern nur gut. Nun bezahl schnell, wir müssen noch nach Hause
    und uns umziehen. Wahrscheinlich macht sich das Publikum hier in Paris
    wenigstens fürs Theater fein.

Kapitel 48

Je einfacher, desto besser

Auf den Plakaten des „Eden“ war der Vorstellungsbeginn mit 20 Uhr

angegeben, und um viertel vor acht fährt unser Ehepaar vor, allein,

der Eingang des Theaters ist noch nicht beleuchtet, obwohl sich schon

eine erkleckliche Menge Publikums angefunden hat, in der man die

glühenden Zigaretten der die dünnen Caporal rauchenden,

herumschlendernden Gendarmen entdecken kann.

Nikolai Iwanowitsch zieht an einer Tür, aber sie ist verschlossen.

-  „Qu’est-ce que c’est? Haben sie die Vorstellung abgesagt?“ wendet er sich
    an seine Frau.
-  „Woher soll ich das denn wissen?“ fragt diese zurück.
-  „Frag mal den Gendarmen“.
-  „Wie denn, ich kenne auf Französisch doch keine Vokabeln aus dem
    Theater-Genre... na, und außerdem warten hier ja eine ganze Menge
    Leute, wird schon nicht ausfallen“.

Nikolai Iwanowitsch geht zu einer anderen der drei Eingangstüren, versucht
sie zu öffnen und klopft schließlich. Hinter der Tür ist eine männliche Stimme

zu vernehmen: „Qu’est-ce que vous faites la? Ne faites pas de bêtises...“
-  „Fermé, Monsieur, fermé...“ ist von allen Seiten zu hören.

Sie sind gezwungen, auf der Straße zu warten, was insofern unangenehm
ist, als es regnet und Glafira Semjonowna in ihrem festlichen Seidenkleid
dasteht, in weißen Handschuhen und mit ihrem guten, spitzenverzierten und blumengeschmückten Hütchen.
Nikolai Iwanowitsch spannt über ihr den Regenschirm aus und schimpft:
   „So eine Schweinerei! Eine Viertelstunde kommt man eher und wird noch
    nicht mal ins Theater gelassen...“ fragt aber bei seiner Frau: „aber nicht,
    dass es hier noch einen anderen Eingang gibt? Vielleicht ist der hier nur
    für die Galerie, die billigen Plätze, Glascha! Könntest du beim Gendarmen
    fragen?“
-  „Peut-être il y a une autre porte?“ wendet sie sich an einen Polizisten,
    erhält aber eine verneinende Antwort, die sie an ihren Mann weitergibt.
-  „Merkwürdig auch, dass niemand mit einer Kutsche vorfährt“, wundert
    sich Nikolai Iwanowitsch weiter.

 

Das Publikum, zu Fuß und unter Schirmen kommend, wird größer und größer.

Die Männer schlagen ihre Hosen bis zum Knöchel hoch, diejenigen, die
im Regen ankommen, erscheinen sogar mit hochgekrempelten Hosenbeinen
und alle versuchen, sich unter das nicht sehr große Vordach des Theaters zu
stellen, was die Enge dort beträchtlich erhöht.

-  „Pass auf die Brilliantbrosche auf, Glascha, nicht, dass die nachher weg ist“
    mahnt Nikolai Iwanowitsch.
Ein neben ihnen stehender älterer Mann in schwarzem, pelzbesetzten Hut und

mit dem kurzen Backenbart petersburger Beamter muss bei diesen Worten

lächeln und spricht unser Ehepaar auf Russisch an: „Ich würde Ihrer
   Ehefrau sogar empfehlen, auf ihre Handtasche aufzupassen. Taschen-
  diebe gibt es hier in Paris zuhauf“.
-  „Батюшки! Вы русскiй?“ ruft Nikolai Iwanowitsch erfreut, „Очень прiятно,
   очень прiятно...Glascha, hast du gehört, ein Russe... Stellen Sie sich vor,
   mein Herz spürte sogar, dass Sie Russe sind...“
-  „Vielleicht, weil ich eine Zigarette der russischen Marke ‘Bogdanow’
    rauche, mit dem Adler auf dem Mundstück?“
-  „Aber nicht doch... ich habe nicht nur den Adler, die Papirossi habe ich gar
    nicht bemerkt... Ihr Gesicht erschien mir einfach russisch.. ein solches
    Antlitz... aber erlauben Sie doch, uns vorzustellen: Nikolai Iwanowitsch
    Iwanow, Kaufmann aus Petersburg, und dies ist meine Frau. Gott, wie ist
    das angenehm, im Ausland auf russische Menschen zu treffen!“

Nikolai Iwanowitsch ergreift die Hand des Backenbärtigen und schüttelt sie
ausdauernd, bis dieser sich nun seinerseits vorstellt: „Kollegienrat  Sergej
     Stepanowitsch Peredrjagin“.

 

  -  „Nun also... auch Ihr Gesicht kam mir gleich so beamtenhaft vor... wissen
    Sie, so ein verlässlicher und solider Anblick... die Franzosen hier - na,
    so flatterhaft, ein Volk ohne Solidität. Und eine Ordnung herrscht hier,
    da kennt sich der Teufel selbst nicht aus! Gucken Sie, um 8 soll die
    Vorstellung anfangen und das Theater ist noch nicht geöffnet, noch nicht
    mal das Licht haben sie angemacht, und es ist schon fünf vor acht!“
-  „Je nun, das ist doch hier immer so. Das ist schon Gewohnheit, erst zu
    Vorstellungsbeginn die Türen zu öffnen. Und sie sparen Gas“, lautet die
    Replik des Backenbärtigen.
-  „Es fängt doch gleich an, es ist kurz vor acht!“
-  „Öffnen tun sie um acht, und anfangen gegen halb neun“.
-  „Wie? Noch eine halbe Stunde warten? Meine Frau ist doch schon völlig
    durchnässt, sie hat ihre besten Sachen angezogen“.
-  „Umsonst. Im Theater erscheint man hier nicht aufgeputzt, je einfacher,
    desto besser“.
-  „Aber wann trägt man denn die eleganten Sachen?“
-  „Ja, wie soll ich Ihnen das sagen.... bei Pferderennen zum Beispiel, und
     natürlich im Theater, Entschuldigung, natürlich nur in der Grand Opéra...“

In diesem Moment wird es hell, und elektrische Lampen beleuchten den
Eingang. „Na, Gott sei Dank“, bemerkt Nikolai Iwanowitsch erleichtert, „jetzt
   bloß schnell hinein...“
Die Türen öffnen sich und die Menge strömt hinein. „Wo sitzen Sie denn?“
    fragt Nikolai Iwanowitsch.
-  „Sessel Balkon“.
-  „Ach, wie schade, dass wir nicht zusammen sitzen, wir haben Sessel im
    Parkett.  Landsmann, Landsmann! Vielleicht können wir heute noch
    irgendwie zusammen zu Abend essen? Wir treffen uns auf jeden Fall im

    Foyer, um das zu besprechen“.
-  „Gut, abgemacht“, und der Backenbärtige geht zur Treppe.

 

Kapitel 49

Weibliche Theaterdiener

Kaum sind unsere Eheleute in ihrem Korridor angekommen, stürzen zwei
Damen auf sie zu. Beide in mittlerem Alter, beide stark geschminkt und in
ein Korsett eingeschnürt, in schwarzen Seidenkleidern mit bunten Bändern

über der Brust und weißen Häubchen machen sie einen eigenartigen Knicks
und beginnen sofort, den beiden die Mäntel abzunehmen. Derart schnell und
unerwartet am Kragen gepackt, ruft Nikolai Iwanowitsch erstaunt aus:
    „Позвольте, позвольте, мадамы! Кеске се? Чего вам?“
-  „Den Mantel und den Regenschirm möchten sie“, übersetzt Glafira.
-  „Aber warum sollen wir den Damen das geben? Wäre es nicht besser,
    dass die Theaterdiener...? Wo sind denn die Капельдинер?“

Aufgeklärt, ist Nikolai Iwanowitsch sehr erstaunt, dass deren Aufgabe hier
von Damen übernommen wird: „Äußerst merkwürdig - ich dachte zuerst, das
   sei Publikum wie wir und war verwundert, dass mich völlig fremde Damen
   anfassen... Ну, prenez, Madame, prenez... вот и les калош... also so
    was....Theaterdienerinnen statt Diener... combien für die
   Aufbewahrung....?“  fragt er und kramt in der Tasche nach Geld.
-  „Ce que vous voulez, Monsieur...“ antworten die Damen ein wenig
   affektiert und knicksen erneut.

Nikolai Iwanowitsch gibt einen halben Franc, und eine der Damen blickt ihm
sogar, während des nächsten Knickses, mit einem ganz besonderen Lächeln
tief in die Augen.
-  Fuu - hol sie der Teufel! Will das geschminkte Luder mit mir flirten?
   Verdreht die Augen... hast du das gesehen?“
-  „Ach, was du dir wieder zusammenphantasierst...“
-  „Na, so ein verdorbenes Lächeln hat sie aufgesetzt... wenn das man
    Garderobieren sind... pass auf, dass unsere Mäntel nicht verschwinden!“
-  „Wir haben doch eine Nummer bekommen...“, beruhigt ihn Glafira.

Sie ist genötigt, ihr Seidenkleid noch ein wenig zu richten, und eine der
Damen, sich dazu auf ein Schemelchen setzend, hilft ihr dabei und zieht
sogar eine Nadel aus ihrem Korsett, als es eine Naht auszubessern gilt.

-  “Garderobieren, da siehst du’s...“, verfügt Glafira Semjonowna engültig,
    als sie von der ‘Капельдинерша“ zu ihren Plätzen geführt werden.

 

Dort beginnt das Ehepaar erst einmal, sich den Saal zu betrachten. Riesig,
ist er ausgeführt im mauretanischen Stil und verblüfft die beiden in seiner
Ausgefallenheit. Die hübsche Kombination aller möglichen Farben mit viel
Gold schmeichelt ihren Augen, auf Wänden und Säulen ragen gigantische
Körper von Karyatiden hervor, so kunstvoll bemalt, dass sie wie lebendig
wirken.

-  „Das ist ein Theater, so muss es sein!“ entfährt es unwillkürlich Nikolai
   Iwanowitsch.

Aber in diesem Moment naht schon eine dritte Theaterdienerin, statt des
Bändchens eine Rose an der Brust, bückt sich und stochert zu ihren
Füßen herum.
-  „Кеске се? Чего вам, Madame?“ ruft Nikolai Iwanowitsch.
Aber die Dame hat bereits ein kleines Kisschen unter Glafira Semjonownas
Füße geschoben.
-  „Ca sera plus commode pour Madame...“ flüstert sie in Glafiras Ohr, und,
   lauter:  „Donnez-moi quelque chose, Monsieur...“

Nikolai Iwanowitsch steckt auch ihr einen halben Franc zu, kommentiert aber:
   „Zum Teufel, wie clever sie einem hier das Geld aus der Tasche ziehen...
   Kissen... und ich habe schon überlegt, was die Alte da unten macht...
   aber das Theater ist schön, sehr schön...“ will er anfangen zu schwärmen,
   da steht die vierte ‘капельдинерша’ vor ihm, strahlt ihn mit geschminkten
   Augen an und reicht ihm mit einem Lächeln ein Stück Papier:
   „Le programme de ballet, Monsieur...“
-  „Программ? Oui... aber wie - auf Russisch oder auf Französisch?“

-  „Natürlich auf Französisch!“ antwortet Glafira stattdessen.
-  „Wie, französisch, wollen die sich über uns lustig machen? Da verstehen
    wir doch nichts... Allez, madame, allez... brauchen wir nicht, ist nicht für
    uns gedruckt...“ will sie Nikolai Iwanowitsch mit einer Handbewegung
    wegschicken, aber das Mädchen gibt nicht auf, richtet die Augen gen
    Himmel, so dass man das Weiße sieht, lächelt noch breiter und flüstert:
   „Un peu, Monsieur... soyer aimable pour une pauvre femme... vingt
    centimes, dix centimes...“
-  „So etwas Aufdringliches, ist wahrscheinlich eine französische Zigeunerin
    oder so was... Kein Kleingeld mehr, Madame, nur noch ein Kupferstück...“
    zeigt ihr Nikolai Iwanowitsch eine 10-Centimes-Münze.
-  „Merci, Monsieur, merci..“ spricht sie und nimmt die Münze aus seiner
    Hand.
-  „Also die dasigen Frauen... Kupfer verschmähen sie nicht, aber schau
    dir an, wie sie gekleidet sind...“

Mit ihrem mitgebrachten Opernglas begutachtet  Glafira Semjonowna
ausführlich die Logen im Rang, und auch Nikolai Iwanowitsch lässt seine
Augen dort umherschweifen, was einer fünften Theaterdienerin nicht
entgeht, die sich, natürlich mit einem Lächeln, vor ihm aufbaut und ihm
ein kleines Glas in die Hand drückt: „Servez-vous, Monsieur, et donnez moi
   quelque chose...“
-  „Verdammt noch mal, brauch ich nicht, will ich nicht...“ ruft er schon mehr
    als unwillig, wird die Dame aber nicht los.
-  „Zigeunerin, eine richtige Zigeunerin...“ murmelt er beim Durchsuchen
    seiner Hosentaschen nach Kleingeld, dreht sie nach außen und sagt:
    „Na, guck... siehst du, dass rien...“
Glafira kann aushelfen.

-  „Merci, Madame, merci...“. Die ‘капельдинерша“ gibt sich hinfort, auf der
    Suche nach einem neuen Herren.

Das Theater hat sich gefüllt, in den Logen sitzen viele, zur Verwunderung
unseres Ehepaares, auf der Brüstung, das Orchester spielt sich ein,
schmettert los - und der Vorhang hebt sich.

 

Kapitel 50

Ballett ohne Offiziere

Die Aufführung des phantastischen Balletts „Excelsior“ beginnt.

Die Dekorationen sind grandios, die Kostüme ebenso, aber tanzen

tut nur die Primaballerina, alle anderen Balletteusen, wiewohl in kurzen

Ballettröckchen, posieren nur, entweder mit Blumengirlanden

in den Händen, oder mit Tüllbändern,oder mit Pfeilen oder Flaggen,

einzig tanzen dürfen sie nicht. Mal werfen sie die Beine nach rechts,

mal nach links, dann beugen sich nach vorn und wieder zurück -

mehr nicht, unser Ehepaar behält das genau im Blick.

-  „Merkwürdige Sache: nur eine Tänzerin müht sich ab, und alle anderen
    lungern herum und heben ab und zu das Beinchen“ stellt Nikolai Iwano-
    witsch fest, als die Primaballerina wohl zum zehnten Male ihr ausgeklügel-
    tes, verwickeltes Solo auf Zehenspitzen vollführt, „bei uns ist es Ballett,
    wenn alle springen und hüpfen und sich anstrengen, aber hier steht das
    Corps de Ballet wie Möbelstücke herum“.
 -  „Aber trotzdem hübsch, trotzdem interessant. Schau dir doch nur die
     luxuriösen Dekorationen an“, wendet Glafira Semjonowna ein.
-  „Ich weiß nicht, bei uns in Petersburg ist das Ballett besser. So ein luxu-
    riöses Theater haben wir nicht, aber das Ballett ist besser“.
-  „Was soll denn da besser sein! Guck doch: sie nehmen Leitern und vertei-
    len sich auf den Stufen, jetzt steht sie ganz oben und winkt, das ist ja
    ein richtiger Berg aus Menschen“.
-  „Das ist richtig. Aber Tanz würde ich das nicht nennen. Du siehst doch
    selbst: eine Tänzerin überanstrengt sich, ist schweißbedeckt, kaum dass
    sie schon dampft, und niemand hilft ihr. Ballett besteht aus Tänzerinnen:
    gemeinsam springen und tanzen sie, alle drehen sich - das hier verstehe
    ich nicht“.
-  „Ist wahrscheinlich so Mode...“

Nach einigen Bildern senkt sich der Vorhang für eine Umbaupause, und
unsere Eheleute wenden ihre Aufmerksamkeit dem Publikum zu.

 

-  „Ich finde es erstaunlich, wie die Leute hier im Theater rumlaufen, ich
    selbst bin die bestgekleidetste Person...“ stellt Glafira Semjonowna fest,
   „niemand hat sich auch nur anständig angezogen, sei’s auch einfach oder
    billig, nur irgendwelche Lumpen sieht man, die reinen Lumpen. Pariser
    Mode - Fehlanzeige... auf der Ausstellung nicht, hier im Theater auch
    nicht. Und wir sind immerhin im Ballett! Da erscheint man bei uns im
    Abendkleid, herausgeputzt in Flaum und Federn. Guck doch nach links,
    was da im Sessel sitzt:  die war doch vorhin noch im Stall - das Mäntelchen
    fünfmal geflickt, das Hütchen völlig ausgebeult. Vor der Fahrt habe ich
    einen von meinen alten Hüten unserem Zimmermädchen Marfuschka
    geschenkt, der war noch hundertmal frischer... das ist also Paris...“
-  „Tja, sich fürs Theater feinzumachen, scheint nicht mehr in Mode zu
    sein...“ schließt Nikolai Iwanowitsch.
-  „Aber wo machen die sich denn überhaupt fein? Dabei ist Paris

   die erste Adresse für Mode!“

Nikolai Iwanowitsch lächelt: „Der Schuster hat immer die schlechtesten
    Schuhe... die stellen alles her für die Fremden, aber selber putzen sie sich
    nicht heraus... aber weißt du, was ich noch bemerkt habe: wir sitzen im
    Ballett - aber wo sind die Militärs? Hast du einen einzigen Offizier
    gesehen?“
-  „O Gott!“
-  „Na such und zeig mir einen - selbst in den ersten Reihen kein Offizier,
    von einem General ganz zu schweigen... nur zivile Glatzen und Bärte...“

Glafira guckt das ganze Theater ab: „Unglaublich, kein Militär!“

-  „Soso... und bei uns siehts in der ersten Reihe immer aus wie bei einer
    Stabsbesprechung...  wollen wir übrigens nicht in der nächsten Pause ins
    Foyer, den Landsmann suchen?“
-  „Sicher... es sieht aus, als kenne er Paris“, meint Glafira, „das ist immer
    vorteilhaft“.

In der nächsten Pause begeben sie sich in das elegante Foyer, um den
russischen Kollegienrat zu suchen, mit dem sie am Eingang Bekanntschaft

gemacht hatten.

 

Kapitel 51

Auf zu den Kokotten

Ihr Landsmann hatte sie selbst gesucht und war schnell aufgefunden.
-  „Nun, und wie hat Ihnen die Vorstellung gefallen?“ fragt er Nikolai Iwano-
    witsch.
-  „Naja. Die Kulissen sind ausgezeichnet, die Kostüme auch. Aber was den
    Tanz betrifft, der ist doch bei uns in Petersburg besser und eleganter.
    Verzeihen Sie, aber hier tanzt doch nur eine Schachtel, und der Rest
    watschelt auf der Stelle, wackelt mit den Armen und grinst“.
-  „Ja, hier gibts immer nur eine Tänzerin, der Rest ist das Corps de ballet“.
-  „Eben nicht! Was zum Teufel für ein Corps de ballet soll das sein! Denken
    Sie doch an Petersburg, wie man bei uns tanzt. Zwei springen hervor, zum
    Staunen fegen sie über die Bühne, und gleich hinter ihnen, nicht wahr,
    lösen sich die nächsten vier, und noch besser. Sowie sie fertig sind, kom-
    men in einer anderen Farbe wieder sechs Stück und führen ein Wunder an
    Tanz vor. Und nach den sechs fliegen acht herbei, und dann zehn Stück,
    und erst wenn alle fertig sind, erscheint die Primaballerina und beginnt ihr
    Solo. Sowas ist Ballett. Hören Sie, erlauben Sie mir doch, Sie zu einem
    kleinen Getränk anläßlich unserer ersten Begegnung einzuladen...“ sagt
    Nikolai Iwanowitsch, „wo ist denn hier das Buffet...“
-  „Ein Buffet haben sie hier nicht“.
-  „Wie - haben sie nicht? Theater - und kein Buffet? Sie scherzen!“
-  „In den meisten pariser Theatern gibt es eines, hier auch, aber das ist
    unten und der Eingang von der Straße“.
-  „Pariser Einrichtungen! Theater ohne Buffet - und statt der Theaterdiener
     nur aufdringliche, angemalte Weiber“. 

  „Ist Ihnen nicht bekannt, wer diese Frauen sind, die hier statt der Theater-
    diener beschäftigt sind?“ fragt der Landsmann, „größtenteils, so sagt man
    jedenfalls, frühere Schauspielerinnen, Statistinnen und Mitglieder des
    Corps de ballet - alt geworden, verfettet, Freunde und Gönner verlustig
    gegangen oder Opfer sonstiger Schicksalsschläge wechseln sie von der
    Bühne in einen anderen Dienst. Einige von ihnen mögen sogar einmal hier,
    im ‘Eden’, mit Tüllschal hinreißend herumgehüpft sein, aber was für
    Sprünge will man mit 100 Kilo noch ausführen? So erlauben ihnen die
    Theaterunternehmer, in Anbetracht ihrer früheren Verdienste, dem Publi-
    kum hier zur Hand zu gehen und sich eine Kleinigkeit zu verdienen“.
-  „Ach, wahrscheinlich verdrehen sie deshalb die Augen so theatralisch, weil
    sie an ihre Vergangenheit als Schauspielerinnen denken... wenn sie bloß
    nicht so frech wären...“
-  „Ja“, erklärt Perdrjagin weiter, „jeder ist verpflichtet, ihnen etwas zu geben,
    ob du willst oder nicht, sogar von den Toten nehmen sie... andererseits
    geben sie sich schon mit zehn Centimes zufrieden, das sind für uns keine
    drei Kopeken“.
-  „Aber zum Essen kommen Sie doch nachher mit uns?“ fragt Nikolai
    Iwanowitsch.
-  „Aber wohin denn - ist doch alles zu! Hier in Paris sind alle Restaurants
    bereits um 23 Uhr geschlossen“.
-  „Wirklich alle?“
-  „Zwei, drei gibts mit Nachtkonzession, aber da nehmen sie dann

    auch das Doppelte“.
-  „Schnick-schnack. Da gehen wir hin. Einfach abendessen und sich mit
    einem guten Landsmann unterhalten. Hab schon so lange keinem rus-
    sischen Menschen in die Augen geblickt, da sind mir doch irgendwelche
    Preise egal...“
-  „Ich befürchte, es ist unangebracht, in diese Restaurants mit Ihrer Frau zu
    gehen".

-  „Warum denn?“
-  „Na deswegen, weil sich dort nachts ausschließlich Kokotten aufhalten.
     Dorthin fährt man nach dem Theater nur mit Kokotten“.
-  „Nikolai Iwanowitsch, da fahren wir hin“, verkündet Glafira Semjonowna
     sofort, „zeig mir diese pariser Kokotten“.
-  „Hm, Matuschka... also wirklich, also...“ winkt Nikolai Iwanowitsch sofort
     ab, „muss das sein?“
-  „Warum denn nicht? Wer kennt uns denn hier in Paris? Absolut niemand
    kennt uns doch hier!“
-  „Aber nachher hält dich noch jemand für eine Kokotte...“
-  „Soll er doch denken, was er will... macht doch nichts. In Wahrheit bin ich
    ja mit meinem Mann da, mit dir“.
-  „Wie du nur sprichst, du liebe Güte, wie du nur sprichst!“
-  „Da gehen wir hin, Nikolai Iwanowitsch. Mit ihrem Ehemann kann sich
    eine Frau aufhalten, wo es ihr beliebt“.
-  „Wahrscheinlich grapschen dich irgendwelche Betrunkenen an, oder
    umarmen dich und knutschen dich ab... das kann ich nicht dulden, und  
    nachher gibts einen Skandal, einen Streit... nein nein..“
-  „Unangenehm und peinlich wird das für Sie, Sudarinja, dorthin zu fahren,
    absolut unpassend...“ sagt auch der Landsmann.
-  „So sind die Männer... das richtige Paris krieg ich nicht zu sehen... genau
    wegen dieser Kokotten ist Paris doch berühmt...“ knurrt Glafira vor
    sich hin.
-  „Nun ist gut... quatsch keinen Unsinn“ sagt Nikolai Iwanowitsch in strengem
    Ton zu ihr, und, wieder zum Landsmann gewandt: „Aber die Familien hier,
     wohin gehen die denn zu Abend essen?“
-  „Zum größten Teil wird hier überhaupt nicht soupiert. Ein spätes Abendes-
    sen gibts kaum nach 20 Uhr, das kann man kaum Abendessen nennen.
    Und wenn Familien in der Nacht essen wollen, kaufen sie vorher irgend-
    welche kalten Vorspeisen ein und essen zu Hause“.
-  „Ach, schade, dass wir nicht gemeinsam essen können“, murmelt Nikolai
    Iwanowitsch verdrossen.
-  „Dann essen wir eben morgen gemeinsam zu Mittag“, schlägt der Lands-
    mann vor, „sind Sie morgen auf der Ausstellung? Dann suchen wir uns
    einfach irgendeinen Treffpunkt aus“.
-  „Die hängt uns schon zum Hals raus, die Ausstellung. Wir hatten gedacht,
    morgen ein wenig durch die Geschäfte zu schlendern. Sie möchte dort
    irgendetwas im Magasin du Louvre kaufen“.
-  „Ist doch ausgezeichnet, dann bin ich auch dort, und wir treffen uns da.
    Um welche Uhrzeit?“
-  „Um 11“.
-  „Sie möchten bestimmt ein paar Seidenstoffe für Ihre Frau erwerben?
    Dann fragen Sie nach der Seidenabteilung im zweiten Stock und seien
     sie dort“.
In diesem Moment bimmelt im Foyer die Glocke und zeigt das baldige Heben
des Vorhanges an.
-  „Es hat geklingelt, der nächste Akt beginnt gleich, Sie gehen besser wieder
    auf Ihre Plätze..“ bemerkt ihr Landsmann und verbeugt sich, schon im
    Korridor, vor dem Ehepaar: „Dann bis morgen im Magasin du Louvre -  
    auf Wiedersehen“.