Leikin beschreibt in seinem Roman die erste, und wahrscheinlich auch einzige, Auslandsreise eines jungen, durchaus modernen oder progressiven, russischen Ehepaares aus der Mittelschicht nach
Paris, zur Weltausstellung 1889.
Das Buch erschien 1891, der Leser besucht, zusammen mit den
Hauptpersonen, die Weltausstellung, deren Höhepunkt der dafür errichtete
Eiffelturm ist, das Ballett „Ezcelsior“ oder Buffalo Bills Wild-West-Show und
taucht in eine mit historischen Details gesättigte Atmosphäre ein.
In einem Par-Force-Ritt durcheilen wir, quasi als Augenzeugen, das Berlin,
Paris, Genf und Wien dieser Zeit in einem atemberaubenden Tempo, der
Autor hält sich nicht lange mit Beschreibungen auf und legt den Schwerpunkt
auf die Dialoge - beinahe ein Drehbuch, wenn es denn den Film schon
gegeben hätte.
Die bis zur Revolution ungeheure Popularität des Buches in Russland ist
allerdings in dessen Humor gegründet - der Autor lässt sein Ehepaar eine
Unzahl von Hindernissen und Missverständnissen erleben, die zu lebhaften
und komischen Situationen führen, von witzigen Dialogen begleitet und
zum einen natürlich von sprachlichen Verständigungsproblemen
verursacht sind.
Zum anderen aber kannte Leikin seine Personage sehr gut: ihren Bildungs-
horizont, ihre Denk- und Ausdrucksweise, ihr Verhalten. Bestimmt sind
Nikolai Iwanowitsch und Glafira Semjonowna in einigen Situationen, der
Komik wegen, überzeichnet, aber Leikin stellt sie insgesamt psychologisch
glaubwürdig dar. Die russischen Leser der damaligen Zeit konnten nicht nur
Eigenheiten oder Verhaltensweisen ihrer Bekannten wiederentdecken,
sondern auch sich selbst.
So individuell uns die Hauptpersonen gegenübertreten,
so sind sie doch auch typisch: zunächst für ihre soziale Schicht, dann aber
auch als russische Touristen allgemein, für ihre Zeit, aber, wie die Resonanz
des Romanes zeigt, und eigentlich erstaunlich, in gewisser Hinsicht bis heute.
Die meisten heutigen Leserinnen und Leser haben sicherlich bereits eine
Unmenge fremder Länder, und nicht nur in Europa, bereist, und es wäre
bestimmt nicht fair, sich über die Naivität und Unbeholfenheit unseres
Ehepaares zu mokieren. Ich denke, auch ein schwedischer oder italienischer
Reisender wäre damals mit den gleichen Klischeevorstellungen nach
Deutschland und Frankreich gereist und hätte die Verhältnisse dort mit den
gleichen staunenden Augen betrachtet. Das gilt auch vice versa - noch fünfzig
Jahre später besuchten die meisten Deutschen das Ausland
nahezu ausschließlich in der Uniform der Wehrmacht.
Ob es für Angehörige anderer Nationen zutrifft, mag jeder für sich
entscheiden, gewisse russische Eigenheiten scheinen sich aber bis heute
nicht grundlegend geändert zu haben. Dazu gehört das Festhalten an der
eigenen Esskultur: schwarzer Tee mit etwas Süßem, also Warenje oder
Gebäck, ist unabdingbar. Der Hering ist nach wie vor allgegenwärtig,
ebenso Schwarzbrot und die Vorspeisen, Sakuski, auch Beilage zum Wodka.
Gleichfalls scheint die Quantität der Speisen relevant für deren Beurteilung
zu sein, allein die Papirossi haben an Renommee verloren.
Deutsches Bier und französischer Wein werden selbstverständlich goutiert,
aber die kulinarischen Spezialitäten dieser Länder im Zweifelsfall für die
eigenen stehen gelassen.
Ebenfalls bis heute nicht abhanden gekommen ist die russische
Trinkfreudigkeit, für die Nikolai Iwanowitsch ein schönes und wahrscheinlich
typisches Beispiel ist, wobei wir daran denken sollten, dass früher überall,
bei uns bis weit in die 70er Jahre, Alkohol wesentlich öfter, vor allem auch
tagsüber und bei der Arbeit, getrunken wurde.
Interessanter ist der Umgang unseres Ehepaares mit fremden Kulturen
und mit dem, was man als Alltagskultur fassen könnte. Hier fehlt ihnen oft ein
gewisses Maß an Empathie und sie haben größere Schwierigkeiten, nicht
nur sich anzupassen, sondern andere Umgangs- und Verhaltensformen auch
nur zu akzeptieren, recht unbeirrt klammern sie sich an ihre Vorstellungen.
Dies ist umso bemerkenswerter, als Deutschland und Frankreich ja als
Vorbilder in Russland galten, für die technisch-materielle Seite und Ordnung
das eine, für die Fragen von Zivilisation und höherer Kultur eher das andere.
Unser Kaufmannsehepaar ist zweifellos modern und am Fortschritt
interessiert, in ihren Wertvorstellungen orientiert es sich aber an der
Aristokratie, die gern in Westeuropa ihr Geld ausgibt und mit Trinkgeldern
nicht geizt, um akzeptiert und gemocht zu werden.
Es folgt seinem Zaren zur Weltausstellung, nicht um, ebensowenig wie die
russischen Adeligen, an der westeuropäischen Kultur zu partizipieren,
sondern, wie diese, aus Gründen sozialen Prestiges.
Der offiziellen Ideologie vom Vorbildcharakter der beiden europäischen
Länder begegnen sie allerdings in bestimmten Hinsichten reserviert,
gar widerborstig, vielleicht auch hier ihren Adeligen nicht unähnlich.
Bei aller Wertschätzung für Wurst und Bier wird deutlich, wie intensiv
nationale Klischees in den Köpfen präsent waren und wie unbeliebt sich
Preußen-Deutschland bereits gemacht hatte. Die militärisch-fabrikmäßige
Organisierung eines ganzen Landes, von Leikin am Beispiel des
Eisenbahnwesens vorgeführt, findet Nikolai Iwanowitsch sogar „unmenschlich“
und verweist auf spätere geschichtliche Ereignisse - wenn wir schon bei der
Frage der Unveränderlichkeit von Nationalcharakteren sind, ist dies,
Deutschland betreffend, doch eine ernstzunehmende Kritik.
Nikolai Iwanowitsch jedenfalls wurde von Leikin mit einer echten russischen
Seele - душа - ausgestattet und betrachtet die deutschen „Einrichtungen“
ähnlich wie Gontscharows Oblomow das hyperaktive Treiben von Stolz.
Kummer,Unzulänglichkeiten und Warten ist er gewohnt, sie bringen ihn nicht
aus der Fassung, sie gehören zum Leben. Zu Amtspersonen sucht er eine
persönliche Beziehung, und es wäre nicht nur für unsere beiden Reisenden
besser gewesen, wenn deutsche Beamte Nikolai Iwanowitschs Vorstellungen
von „Menschlichkeit“ geteilt hätten, verbunden mit einer etwas laxeren Pflichtauffassung.
Als typisch schildert Leikin unsere Eheleute auch in ihrem
selbstverständlichen Antisemitismus und dem Nachplappern der
zeitgenössischen slawophilen Ideologie. Einen wirklichen Slawophilen führt
er uns dagegen, wie auch anders, als Karikatur vor, wie er selber auch mit
Dostojewski („ein stark überschätzter, sentimentaler Verfasser von
Schauerromanen“, wie Nabokow feststellt) gar nichts anfangen konnte.
Im Gegensatz zu jenem benutzt unser Autor selbst nicht das
abschätzige „Жид“, sondern das im Russischen korrekte „hebräisch“.
Wenige Jahre vor der Dreyfuß-Affäre in Frankreich und dem Deutschland
der 1890er Jahre, in denen dann ein enormer und enorm widerwärtiger
Antisemitismus offenbar wird, der zum ersten Mal tradierte, religiöse
Formen überschreitet und bereits rassistischen und völkischen Charakter
annimmt,ist der Antisemitismus unseres Ehepaares fast ohne Bösartigkeit.
Ihre Bemerkungen sind unangenehm zu lesen, Leikin war jedoch mit Sicherheit
kein Antisemit, er konfrontiert seine Helden mit der Realität und führt so auch
uns Lesern Bilder einer vergangenen Welt vor Augen, in der Juden ein selbstverständlicher, stets wahrzunehmender und zahlenmäßig bedeutender
Bestandteil europäischer Gesellschaften waren.
Antisemitismus und Rassismus jedenfalls sind ubiquitär und nicht auf die
im Roman beschriebene Zeit und Russland beschränkt, wiewohl wie wir hier
anmerken möchten, dass es dort immer noch Personen gibt, die das Wort
‘Neger’ für akzeptabel halten, ebenso wie man das antisemitische ‘Jid’ in
Neuausgaben literarischer Klassiker nicht ersetzt - worüber man immerhin
diskutieren könnte.
Menschen- oder Völkerschauen, wie sie genannt wurden, gab es bei uns
auch, zum Beispiel in Hagenbecks Tierpark, bei Hans Henny Jahnn können
wir seine Erinnerung daran nachlesen.
Fast 40 Auflagen des Buches in 20 Jahren scheinen jedenfalls ein Indiz
dafür zu sein, wie genau der Autor seine Helden - und sein Publikum -
gezeichnet hat; interessant auch, dass die zaristische Zensur die
Übersetzung ins Polnische untersagt hat, wohl aus Angst, sie könne für
antirussische Propaganda benutzt werden.
Sicher, Nikolai Iwanowitsch und Glafira Semjonowna sind beschränkt im
wahrsten Sinne des Wortes und wir können über sie lachen - nebenbei
entgeht auch keine andere Person des Buches diesem Schicksal - aber
der Autor denunziert sie nicht.
Glafira spielt zunächst die Rolle der unterwürfigen Ehefrau oder tapst
zumindest etwas unsicher über die Grenze, aber sie war es, die die Idee
zu dieser Reise gehabt hat, in kritischen Momenten übernimmt sie das Ruder
und trifft überhaupt alle wirklich wichtigen Entscheidungen, womit sich
Nikolai Iwanowitsch auch kleinlaut abgefunden zu haben scheint.
Erst spät erkennen wir ihre Motivation der Fahrt: sie lebt, wie schon Flaubert
es beschrieben hat, in der Welt der Literatur, und die Außenwelt ist lediglich
die Staffage für alle bisherigen und zukünftigen Liebesromane und Traumwelten,
inclusive der selbst zu erfindenden eigenen, bzw. andersherum betrachtet und
mit Arno Schmidt gesagt: die Realität zeige uns nichts, was es nicht schon
als Roman gäbe.
Derart psychologisch vorgebildet, hat sie keine Probleme, ihren Mann
mal an der kurzen, mal an der langen Leine zu führen.
Bis heute nicht untypisch für russische Frauen ist auch ihre Wertschätzung
eines femininen Erscheinungsbildes - frau macht sich eben fein und achtet
auf ihr Äußeres, wenn sie sich in die Öffentlichkeit begibt, und sei diese auch
nur, wie bei Afimja, der Hof - sowie eine uns eher türkisch anmutende
Vorliebe für Verzierungen und Schmuck.
Interkulturelle Kompetenz ist ein aktuelles Schlagwort, aber wir müssen
konzedieren, dass unsere Eheleute es in dieser Disziplin nicht sehr weit
gebracht haben. Sie sind durchaus aufmerksame Beobachter, aber der
Grad ihrer Reflektion scheint eher gering, über das Stadium des bloßen
Vergleichens kommen sie oftmals nicht hinaus. Der formal sehr höfliche
Umgang der Franzosen wird - angesichts der heimischen хамство -sehr
bewundert, aber Bitte und Danke, Monsieur und Madame will ihnen selber
kaum über die Lippen.
Bei allem ist erstaunlich, dass Leikin es gelingt, seine Geschichte zu
erzählen, ohne die gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland grundsätzlich
zu kritisieren und diejenigen Deutschlands und Frankreichs weder in den
Himmel zu heben, noch, in slawophiler Tradition, in Bausch und Bogen zu
verdammen und als Gefahr oder unpassend für Russland darzustellen.
Leikin schickt einfach zwei Landsleute nach Westeuropa.
„Das ist ja heute noch genauso!“ - ich denke, fast alle heutigen russischen
Leserinnen und Leser, und vielleicht nicht nur diese, werden dieser Aussage
zustimmen, wenn sie das Auftreten und Verhalten Glafira Semjonownas und
Nikolai Iwanowitschs dort kommentieren sollten.
Allgemeiner gesagt: Leikin konfrontiert zwei Individuen mit einer
ihnen unbekannten Massenkultur und Organisation - mit der Welt, in der
wir heute noch leben.
Beat Wyss beschreibt die Weltausstellung 1889 (s.Anmerkungen) als
„Laboratorium der Globalisierung“ und “..der allmählichen Subversion
von selbsternannter Hochkultur und Primitivität...“. Die Kolonialmächte stellten
ihre scheinbare Überlegenheit dar mit dem Ziel, den westlichen, heute den
Massenkonsum in alle Welt auszudehnen. Gleichzeitig dringe die kolonisierte
Welt in die Identität der Kolonisten ein - Wyss bezeichnet das als „Kreolisierung“,
als Prozess, der mit der Verwestlichung der Welt auch eine Orientalisierung
des Westens hervorbrächte.
Dies ist der andere Grund für die Aktualität des Romans: wie wir uns heute
vor dem Fernseher durch verschiedene Welten zappen, hat sich Glafira
Semjonowna im Fauteuil rolant durch sie schieben lassen.
Wir amüsieren uns über die Adoleszenz unserer modernen und multikuturellen
Welt und die embryonale Phase vieler Phänomene, die auch heute kein Anlass
für ungetrübte Freude sind:
den großstädtischen Verkehr, das Schlangestehen und das Reservieren,
Schnäppchenverkauf und Ramschartikel, Selbstbedienungsläden mit
Verkäufern, die nicht verkaufen wollen, Starkult und künstlerische
Effekthascherei, die „Übersichtlichkeit“ (Loriot) teurer Gerichte,
Massentourismus mit entsprechender Geldschneiderei, Souvenire
erbärmlichster Art und und und.
Nur die deutsche Bahn scheint ihre anfängliche Perfektion eingebüßt zu
haben.
Unsere beiden russischen Touristen - sie verhalten sich in dieser Welt
wie Bauern, die das erste Mal in die Stadt kommen. Letztlich verdanken
wir jedoch ihnen diesen witzigen Roman, und ein naives Staunen und
Wundern ist allemal sympathischer als coole Teilnahmslosigkeit,
vielleicht noch mit einer Sonnenbrille auf der Nase, oder gar
besinnungslose Akzeptanz.
In der Literatur kennen wir seit langem diesen ‘Blick von außen’,
und es ist nach wie vor bestimmt nicht falsch, unsere Welt einmal
mit diesen Augen zu betrachten, zu vergleichen, und mit Glafira Semjonowna
und Nikolai Iwanowitsch laut auszusprechen, wenn uns etwas nicht gefällt
oder zu fragen, wo denn hier die „Menschlichkeit“ bleibe.
Besonderer Dank an dieser Stelle gebührt Nikolai Iwanowitsch für
die Offenlegung seiner Motive beim Schreiben von Urlaubspostkarten,
und wir werden künftig, glaube ich, keine mehr betrachten,
ohne uns an ihn zu erinnern.